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Enrico:

Er hörte das Klingeln, und doch stand er nicht auf. Zwar sah er nicht, was auf dem Display stand, doch irgendwie war es ihm auch ... egal. Es wäre schon nichts Wichtiges, nichts Weltbewegendes, was er verpassen könnte, würde er nicht dran gehen. Denn während die anrufende Person nahezu unermüdlich versuchte, ihn dran zu bekommen, wollte er einfach nur sitzen, wollte sich entspannen und endlich mal schlafen. Enrico war müde von den Nächten, die er gezwungenermaßen hatte durchmachen müssen. Nun drückte diese Müdigkeit ihn in die Polster des Sofas, ließ ihn nicht mehr aufstehen, sich kaum mehr bewegen.

»Scheint wichtig zu sein«, raunte Timothy, nachdem er einen Blick auf sein Handy geworfen hatte. Er reichte es Enrico, der Anrufer rief erneut an. Auch wenn er absolut keine Lust hatte, um mit irgendeiner wildfremden Person zu telefonieren, nahm er seufzend den Anruf an. »Ja?« Er klang genervter, als er es geplant hatte. Kurzzeitig war auf der anderen Seite nur Atmen zu hören, dann ein Räuspern. »Du bist drangegangen.« Enrico stockte, lauschte in die Stille, legte seine Stirn in Falten und spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Er wollte das nicht. Er sollte das nicht. Doch sein Körper wollte genau das. Denn egal wie sehr er es verleugnen und die Schuldgefühle von sich schieben würde, er konnte nicht verhindern, dass er ihn vermisste.

»Was ... warum rufst du ... an?« Er war verwirrt, konnte nicht vergessen, wie sehr es ihn verletzt hatte, in letzter Zeit nichts mehr von Liam gehört zu haben. Doch seine Stimme hatte etwas Gutes, etwas Beruhigendes an sich.
»Ich ... wollte nur, dass du weißt, dass ich dich nicht vergessen habe.« Er klang stumpf, rau, aber ehrlich. Irgendwas war merkwürdig. »Gut. Darf ich dann wieder auflegen?« »Hast du mich vergessen, Rico?« In seinem Magen grummelte es, seine Brust zog sich ein wenig zusammen und sein Kopf rannte ums Verrecken nicht in die richtige Richtung. Denn genau diese Frage hatte er schonmal gefragt - mehrmals. In letzter Zeit erinnerte er sich an viel, ließ sich vieles durch den Kopf gehen, doch diese Erinnerung, die wollte er nicht erneut erleben.

»Hast du mich vergessen?«, fragte er mit großen braunen Augen, von welchen nun eines ein wenig blau an der Augenbraue wurde. Seine Finger wischten sich das Blut unter der Nase weg, sie sahen sich an, Enrico sah nicht weg.

»Hast du mich vergessen?« Als er Liam an einer Bar sitzend fand und realisierte, dass sie sich hatten treffen wollen, er jedoch den ganzen Tag verpennt hatte.

»Hast du mich vergessen?« Er stand an dem Krankenbett, hielt die zierliche blasse Hand des Jungen, welcher dem Tod knapp entkommen war und trotzdem noch immer mit blassen, spröden Lippen lächelte.

»Hast du mich vergessen?« Seine Augen suchten das Weite, verloren sich im endlosen Labyrinth der Natur, die sich eine kleine Fläche wieder zurückholen wollte, während seine Finger die Tränen des Anderen weg strichen.

»Hast du mich vergessen?«, fragte er, als sie sich nach dem Abi in einem Club trafen, in welchem sie sich vor einer Stunde bereits hatten treffen wollen.

Und er fragte auch: »Hast du mich vergessen?«, als sie sich draußen trafen, als sie sich draußen sprachen und ansahen, stumm austauschten, was sie immer hatten zurückhalten müssen.

Nun fragte er wieder, ob Enrico ihn vergessen hätte. Und nach all den Jahren, in denen Liam das immer nur gefragt hatte, wenn es ihm schlecht ging oder sie sich in einer schlechten Situation befanden, konnte er noch immer nicht drauf antworten. Er reagierte langsam und zögerlich, wie sonst nie. Er war vorsichtig, weil er nicht wusste, was ihn erwartete. Enrico hatte Angst. Angst um ihn, den Jungen, den er zu halten versucht hatte. Liam war sein Engel - ein gefallener und mehrmals auf dem Boden aufgeschlagener zwar, aber noch immer ein Engel. Engel ließen sich nicht unterbekommen. Engel verloren nicht an Schönheit, wenn sie fielen. Engel verloren nicht ihr großes, liebes Herz, selbst wenn es zerschmettert worden war.

»Nein, Angel. Ich kann dich nicht vergessen. Wo bist du?« Seine Stimme verriet jeden inneren Zwiespalt, den er gerade durchmachte. Doch es war okay. Es war okay, wenn er dabei mit Liam sprach. Vor Liam war alles okay - eine Sache, die er in den Jahren gelernt und verinnerlicht hatte. Vor Liam durfte er sich scheiße verhalten, rumschreien, zusammenbrechen, Unsicherheiten zeigen, sich betrinken, sich selbst vergessen und verurteilen. Vor Liam durfte er vorsichtig sein, aber auch dramatisch und aufdringlich. Liam war ein guter Mensch. Liam war sein Engel, egal, wie häufig er noch fallen würde. Denn manchmal war er wie eine Droge, nur für ihn bestimmt. Wie eine ungesunde Abhängigkeit, die sich richtiger nicht anfühlen könnte. Liam war das, was er immer gesucht und in niemand anderes gefunden hatte.

»Du hast mich lange nicht mehr Angel genannt. Ich hatte schon gehofft, dass du diese Bezeichnung vergessen hast.« Liam war betroffen, wie seine Tonlage verriet. Er schämte sich. Er versuchte, von sich abzulenken. »Du bist mein Engel, Liam. Egal, was du jetzt wieder angestellt hast, egal, wo du gerade bist. Sag es mir einfach, du kannst mir vertrauen.« Er räusperte sich, es war hörbar, dass er Angst und Tränen herunterzuschlucken versuchte. »Ich ... ich will nicht ... dass du mich hasst. Du ... sollst mich nicht ... anders ansehen.« Jetzt hörte er sich nach stummen Tränen und lautlosem Wimmern an. »Ich werde dich nicht hassen. Du lebst, das ist die Hauptsache. Niemals würde ich auf die Idee kommen, dich anders anzuschauen, niemals würde ich dich verurteilen, wenn du versuchst, das Richtige zu tun. Du musst dich nicht schämen.«

Die darauffolgende Stille war erdrückend, und doch versuchte er, sich von dieser abzulenken. Enrico wusste, dass Liam Zeit brauchte. Und diese Zeit würde er ihm geben. Er würde ihm alles geben, es zumindest immer wieder versuchen. Schließlich sollte man keine guten, keine richtigen Menschen wegschmeißen, man sollte sie nicht ignorieren, man sollte sie nicht anschreien. Man sollte Engel nicht quälen.

»Du wirst ausrasten, mich anschreien, glaube ich.« »Liam, sag sowas nicht! Ich verspreche dir, dass ich nicht ausrasten werde, dass ich dich nicht anschreien werde und nichts Derartiges eintreten wird.« Erneut blieb es still, dann holte der andere tief Luft. »Ich ... hab zu viel getrunken, in letzter Zeit. Aber ... jetzt ... bin ich in ner Klinik und ... ich glaube, ich mach wieder ne längere Therapie.« Enrico hatte die Luft angehalten, nun atmete er sie langsam, leicht geschockt, aus. Liam hatte getrunken. Liam hatte Alkohol getrunken. Sich vermutlich auch noch betrunken. Den Rest des Geschehens konnte er sich zusammenreimen, den Rest wusste er aus Erfahrung, aus Menschenkenntnis und seiner Vergangenheit mit Liam. Sein Vater hatte ihn darauf angesprochen, und Liam war zusammengebrochen. Wiedermal.

»Und ... was ist das für ne Klinik?« »Man, ich liebe dich dafür Enrico, weißt du das überhaupt?«, meinte William mit einem kleinen Lächeln in der Stimme. Leicht überrumpelt grinste Enrico, lehnte seinen Kopf auf die Lehne des Sofas und legte sich somit hin. »Tagesklinik für erstmal drei Wochen, vielleicht auch länger. Und dann ... dann halt einfach wieder ambulante Therapie, also ... Therapeut ein bis zweimal die Woche.« Drei Wochen. Drei. Drei weitere Wochen ohne ihn, mindestens. Sein Herz zog sich dabei zusammen. Er wollte nicht ohne ihn auskommen. Doch er wollte, dass es ihm besser ging.

»Wirst du für die ambulante Therapie wieder her kommen?« Seine Frage war ein offensichtlicher verzweifelter Ruf nach Liebe, nach Fürsorge, nach ihm. »Vielleicht. Muss ich mit meinem Vater besprechen.« »Was ist mit mir, Liam? Was mach ich ohne dich hier?« Liam seufzte leise, aber nicht genervt, eher entspannt, nachdenklich. »Überleben. Ich hab mein Handy verloren aber ... von hier aus kann ich dich regelmäßig anrufen, wenn du das willst. Und ... dann komm' ich zurück.« »Willst du wieder herkommen?« Der Jüngere blieb erneut kurz still, es hörte sich so an, als ob er seine Finger knacken würden, dann räusperte er sich erneut. »Willst du, dass ich zurückkomme, Enrico?« »Ist das nicht offensichtlich, Angel?«

Lost Souls | boy×boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt