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Liam:

Er wusste, dass Enrico enttäuscht, vielleicht sogar ein wenig wütend war. Und doch war er verständnisvoll. Trotz seiner eigenen Gefühle und Emotionen, legte er den Arm um seine Schultern und rutschte damit so neben ihn, dass sie weniger Abstand zueinander hatten. Liam wusste, dass es scheiße gewesen war, sich nicht zu melden, doch irgendwie hatte er es heute den ganzen Tag nicht auf die Reihe bekommen. Sie hatte morgens angerufen, ihn damit komplett aufgewühlt und ihm nicht einmal die Möglichkeit gelassen, wach zu werden. Dann war er still und heimlich zur Therapie gegangen, ohne sich zu verabschieden, ohne sich bemerkbar zu machen. Das hatte sich schlecht angefühlt, unfair, doch er hatte es trotzdem getan. Und später hatte er dann wie immer zur Arbeit gemusst.

»Du kannst nicht so nett zu mir sein, ohne dass ich mich entschuldigt habe!« Liam sah das Schmunzeln auf den Lippen seines Freundes, spürte, wie froh er war, ihn zu haben. Bei ihm fühlte sich kaum etwas wie ein Fehltritt an. Bei und mit ihm, da war alles gut. Sie konnten offen reden, seine Berührungen machten ihm reichlich wenig aus und ihre Abende, die waren meistens ruhig und angenehm. Enrico sagte häufig, dass, wenn er irgendwas machen würde, was Liam nicht passte, dieser das sagen könnte, weil sie ja nichts überstürzen müssten. Und manchmal hoffte er, dass er ihm irgendwann auch mal so viel zurückgeben konnte, wie er an Zeit und Liebe nun bekam.

»Na dann«, meinte er und zog seine Hände ein wenig zurück. »Wenn du drauf bestehst.« »Also ... es tut mir leid, dass ich mich die ganze Zeit nicht gemeldet habe, und es tut mir leid, dass du dir dadurch Sorgen um mich gemacht hast. Ich weiß, dass es falsch war und ich mich hätte melden sollen, doch ich hoffe, dass du mir verzeihst, wenn ich dir verspreche, dass das nie wieder vorkommt.« »Hm.« Nachdenklich sah er aus, doch in Enrico's Augen funkelte der Spaß. Er zog ihn auf, mit seinem »hm« und seinem nachdenklichen Summen. »Na komm schon!« Enrico begann zu grinsen, während er neckend weiter summte. Liam grinste ebenfalls, spürte diese unglaubliche Wärme. Irgendwas an dieser Situation machte er besser. Er war gut im Ablenken, gut im er-selbst-sein.

»Hör auf!« Liam versuchte, zu protestieren, als Enrico nicht nach gab, doch dieser lachte nur und drückte seine Hände spielerisch weg. Er rutschte näher an seinen Freund, sie kämpften sanft mit ihren Händen, bis Liam die des Anderen sanft greifen konnte und ihn küsste. Es waren nur sie beiden, niemand würde nun ins Wohnzimmer kommen und niemand würde sie sehen. Dass er sich weiterhin schlecht fühlte, versuchte er jedoch den Rest des Abends wegzudrücken, aus seinem Kopf zu verbannen und zu vergessen. Doch, wie das nunmal mit schlechten Dingen so war, hatte er jede verstrichene Stunde das Gefühl, dass er wieder näher an den Abgrund gedrängt wurde.

Als auch Jules nach Hause kam, fragten seine beiden Mitbewohner ihn spielerisch, ob er nicht einfach was kochen könnte, jetzt, wo er quasi im speed-Kochen unterrichtet wurde. Und nach kurzer Diskussion, zog er Enrico von der Couch auf die Beine und sie überließen Jules den Fernseher. Eigentlich hatte er keine Lust mehr zum Kochen, denn das tat er in der Ausbildung genug, doch seiner Freunde Willen zuliebe tat er es trotzdem. Außerdem liebte er es, wenn er in der Küche stand und sein Freund ihn beobachtete, ihn küsste, fragte, was er wann und wieso tat. Manchmal lenkte er ihn ab von dem, was er gerade tat, doch das war nicht schlimm, meistens eher lustig. Mit Enrico fühlte es sich für Liam an, als hätte er getrunken, während er lachte und grinste und sich häufig so gut wie sonst kaum fühlte.

Heute spürten sie beiden, dass ein wenig Distanz zwischen ihnen lag. Sie gingen nicht so wie sonst auch immer miteinander um. Heute schienen sie eher zu tänzeln, schienen eher flüchtigen Körperkontakt zu suchen. Und auch wenn Liam kein Fan von Körperkontakt war, vermisste er den Körperkontakt zwischen ihnen beiden. Er vermisste die Wärme, die von Enrico ausging. Er vermisste die Ruhe, in und um ihn. Doch er war sowieso nicht ganz bei der Sache, sein Kopf war nicht anwesend und seine Gedanken drifteten immer wieder ab, hinein in dieses Wirrwarr aus Situationen und Streits und Vergangenheit.

»Worüber denkst du die ganze Zeit nach?«, fragte Enrico, als Liam das Essen auf ihre Teller machte. Inzwischen lehnte der Ältere an der Ablagefläche, welche zwar in seiner Nähe, gleichzeitig jedoch auch weit von ihm entfernt lag. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schaute ihn warm, gleichzeitig jedoch durchdringend an. Liam zuckte mit den Schultern und machte weiter. Sein Freund wusste, dass er sich immer Zeit nahm, wenn sein Kopf voll von verschiedenen, chaotischen Dingen war. Er konnte nicht direkt antworten, da er nichts davon genau kategorisieren konnte.

»Über dieses und jenes halt.« Enrico nahm ihm einen Teller ab und sie verließen die Küche, gingen den kurzen Weg durch den Flur und ins Wohnzimmer. Ihre Mitbewohnerin bedanktenl sich bei ihnen und grinste sie an, als sie Blicke austauschten, dessen Bedeutung nur sie sich bewusst waren. Normalerweise aßen sie nie zusammen, mindestens einer von ihnen war entweder nicht da oder hatte keinen Hunger. Heute jedoch, da quetschten sie sich alle nebeneinander auf das Sofa, mit den Tellern auf dem Tisch und starrten dicht aneinander gedrückt auf den Bildschirm, auf welchem sich gerade irgendein Überfall abzeichnete. Aus Prinzip lehnte Liam seinen Körper leicht gegen den seines Freundes, schließlich hatten sie ja zu wenig Platz.

Als sie aufgegessen hatten, war der Film gerade im vollen Gange, doch nur Jules starrte wie besessen auf den Bildschirm. Denn während Tim so aussehen würde, als ob er komplett angeekelt wäre und gleich wegesehen würde - was er definitiv nie tat - sah Jules der ganzen Situation mit so einem ungebändigten Interesse zu, als ob sie davon besessen wäre.

»Verfolgst du mich eigentlich?« Er räumte langsam die Spülmaschine ein, während Enrico sich wiedermal an die Arbeitsfläche lehnte, diesmal jedoch viel dichter an ihm, als zuvor. »Nein, ich doch nicht. Wir sind nur zufällig am selben Ort.« Liam richtete sich auf, stemmte seine Handflächen links und rechts von Enrico's Seiten gegen die Keramikfläche - keine Ahnung, ob das überhaupt Keramik war, sah jedoch so aus - und stoppte sein Gesicht nur ein paar Zentimeter von dem des Älteren entfernt. »Bist du sauer oder besorgt?« Sein Atem prallte heftig gegen die Lippen des Anderen, sie starrten sich einfach nur an. Enrico ließ eine Hand an Liam's Wange wandern, strich sanft über seine Haut und lehnte seine Stirn gegen die des Anderen. Er antwortet nicht, doch das musste er auch nicht. Er sah ihm an, dass dort viel mehr als nur Besorgnis und viel mehr als nur Wut war.

»Wenn du müde bist, können wir auch schlafen gehen«, schlug Liam vor, nachdem er sanft ein paar kleine Küsse auf das Gesicht seines Freundes gedrückt hatte. »Irgendwie ist gerade alles ... weird.« Liam's Augen suchten nach den Seinen, doch er hatte sie geschlossen, lehnte sich einfach an ihn und zeitgleich an die Arbeitsfläche. Er sah so müde und geschaffen aus, wie sonst kaum. Und das war irgendwie ... hart. »Was genau meinst du?« »Alles? Weil ... ach, ich weiß es doch auch nicht. Das Leben ergibt so wenig Sinn, und doch ist es das Schönste überhaupt.« »Stimmt. Aber wenn es doch das Schönste überhaupt ist, dann versuch nicht, es zu hinterfragen. Genieß die Schönheit darin, und auch die Hässlichkeit. Genauso, wie du den Regen nach mehreren heißen Sommertagen genießt.« »Sicher, dass du kein Deutschlehrer mehr wirst?« Liam lachte stumm. »Arschloch!«

Lost Souls | boy×boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt