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William:

Manchmal verging die Zeit doch schneller, als man dachte. Denn als er nach einem immer gleich bleibenden Silvester in seinen normalen Alltagsrythmus zurück fiel, vergingen Wochen wie Tage, Tage wie Stunden und Stunden wie Minuten oder gar Sekunden. Achteinhalb Monate zählte er inzwischen ohne Enrico. Achteinhalb verfickte Monate, in denen er ihn vermisst hatte. Inzwischen ging er nur noch an seiner 'Strichsammlung' vorbei, sah nicht mehr zehn Mal darauf, in der Hoffnung, dass er sich verguckt hätte. Er verguckte sich eben nicht, sollte sich besser damit abfinden, dass er alleine auf der Welt war, damit klarkommen musste, und nicht warten, bis sich das ändern würde.

Als er heute in die Bar kam, war diese voll wie sonst kaum. Dennis hatte ihn vorgewarnt, dass bis 22 Uhr ein paar letzte Partygäste von einer Feier vom Vormittag bleiben würden, also überraschte dies ihn kaum. Er nickte Lin zu, sie grinste zurück und nahm eine Bestellung auf. Es war gut, dass der Laden zu besucht war, heute. Mit dem Geld, was sie heute einnahmen, würden sie die Tage, an denen sie nichts verdient hatten, quasi wettmachen.

Er legte seinen Rucksack auf die Bank, da er noch ein paar Unterlagen für seinen Chef dabei hatte, und diese bei dem Regenwetter nicht hatte in der Hand tragen wollen. Sein Outfit war anders heute, quasi ungewohnt für seine Stammgäste, doch es war ihm egal. Viele ihrer Gäste hielten sich von ihm fern, aufgrund der ausgefallenen Kleidung, die er hier trotzdem tragen durfte, andere jedoch, näherten sich ihm an und verfielen in Gespräche dadurch. Dass sie in diesem Laden keine richtige Kleiderordnung hatten, außer, dass sie nicht hier erscheinen sollten, als ob sie gerade von Netflix und Chill kamen, fand William gut. Es ließ ihnen allen Freiheit in den Dingen, die sie taten. Dennis hatte seinen Laden so aufgebaut, dass er einer der ausgefallensten und anziehendsten dieser Stadt war. In diesem Laden kommmen Hippies und Punks zusammen, meinten die Stammgäste immer. Und im Grunde genommen war das exakt der Sinn dieses großen, lauten Etwas.

Er stellte sich neben Lin, welche für heute Schichten mit Sammy getauscht hatte, und somit nun den Traum erfüllt bekam, neben ihm zu stehen. Der kurze Rundumblick reichte aus, um die Lage einzuschätzen; soweit schienen alle ihren Spaß zu haben mit Getränken waren die meisten versorgt und die anderen müssten zu ihnen kommen, wenn sie etwas wollten. Abends war es eher selten, dass sie zu den Tischen gingen, um Bestellungen anzunehmen, da sie erstens nicht in einem Restaurant waren, und zweitens viel zu viele Menschen im Weg standen, um alle bedienen zu können.

»Hey, ähm, kann man hier beschteln?«, fragte ein junger Mann mit einem Akzent, der unter dem Alkoholeinfluss nahezu als Nuscheln wahrgenommen werden konnte. Das Wort bestellen, hatte er zum zweisilbigen Wort besch-teln gemacht, was sich in seinen Ohren nahezu wie basteln anhörte. Und basteln konnte man hier definitiv nicht. »Ja, das kannst du. Was darf ich dir denn geben?«, fragte William nett und wartete darauf, dass der Mann mit dem verlangsamt arbeitenden Gehirn sich entschieden hatte. »En Kölsch bidde«, murmelte er, wobei Liam froh war, dass er wenigstens die Bestellung noch verstand, auch wenn das l ein wenig in die Länge gezogen war. Also nahm er eine Flasche aus dem Kühlschrank, wischte kurz ein Glas aus und füllte das Getränk um, bevor er es gegen einen Fünfer tauschte. »Rest können Sie behaldn« »Das sind 2,50 Euro, das kann ich nicht annehmen.« »Do do«, winkte der Fremde ab und ging mit seinem Kölsch in der Hand weg. William sah auf die 2,50 Euro in seiner Hand. Das war gerade nicht im Ernst passiert, richtig? Sollte er sich darüber freuen? Doch er fühlte nichts wie Freude, Erleichterung oder so. Dort war einfach ... nichts, nur sein Blick, der das Geld aufsog. Es war, als ob sein Kopf das Geld noch nicht als sein Trinkgeld abgespeichert hätte.

Er lächelte höflich, bei jeder Person, nahm ihre Bestellung und ihr Geld an, gab das Wechselgeld aus und doch fühlte er ... nichts. Leere, ungewohnte Leere, machte sich in ihm breit. Und obwohl er diese normalerweise einschätzen konnte, wusste er diesmal nicht, ob sie gut oder schlecht war. Sein Befinden war schlecht, es fühlte sich schlecht an, diese Leere in sich zu tragen. Er wollte sich krümmen, wollte in die Knie gehen, weinen, schreien, weil sie irgendwie weh tat. War das überhaupt noch Leere? Es war wie ein Update der inneren Leere, die er gewohnt war. Und sie war dreimal beschissener. Die Frage war, woher sie kam, so ganz plötzlich. Wieso trat sie auf? Es war nichts passiert, also nichts Gravierendes.

»Ey sorry, ich möchte das zurückgeben«, meinte eine Frau zu ihm, er ließ Lin übernehmen und verließ den Raum. Sein Kopf wusste, wo er hin musste, seine Schritte waren soweit gerade und als er endlich in einer Kabine des Männerklos war, ließ er sich müde auf den Boden plumpsen. Er überarbeitete sich momentan völlig, was einerseits nicht förderlich, andererseits jedoch absolut hilfreich war, um sich abzulenken. Er lehnte sich aus einem Reflex heraus zur Seite, zur Toilettenschüssel hin und zog sich ein wenig hoch, bevor er sich übergab. Sein Mageninhalt war begrenzt, da er heute noch nicht viel gegessen hatte, weshalb er sich ziemlich schnell in der Position des Würgens ohne, dass noch etwas rauskam, wiederfand. Vielleicht, ganz vielleicht, wäre es doch besser, nach Hause zu gehen und einfach mal zu schlafen, nicht immer versuchen, die Fehler der Vergangenheit wett zu machen und einfach mal zur Ruhe kommen, dachte er sich. Und nach weiteren Minuten, die er auf den Boden sitzend und an die Kabinenwand angelehnt verbracht hatte, war dieser Gedanke zu einem Beschluss geworden. Auch wenn es kurzfristig war, er hatte schließlich schon länger mit dem Gedanken gespielt, einfach mal wieder nichts zu tun.

Nahezu vorsichtig zog er sich an der Toilette hoch, fühlte sich plötzlich ausgelaugt und fertig. Er spülte ab, wusch sich am Waschbecken den Mund und das Gesicht mit Wasser und ging langsam aus dem Bad. Das Büro seines Chefs war am Ende des Ganges, war zwar geschlossen und draußen hing ein Schild mit der Aufschrift 'Bitte nicht stören', jedoch wusste er, dass dies nicht für die Mitarbeiter galt. Dennis hatte keine Konferenz und sah generell ziemlich gelangweilt aus, weshalb William sofort reinging, seine Situation erklärte und nach ungefähr fünfzehn Minuten das Büro wieder verlassen konnte. Sein Chef war zu nett für diese Welt, oder zu verständlich, manchmal wusste er dies nicht so genau zu unterscheiden.

Nachdem er auch Lin schnell erklärt hatte, dass es für ihn besser war, zu gehen, nahm er seine Sachen und verließ den vollen Laden. Es fühlte sich an, als ob sein Körper Schmerzen würde, ohne, dass er den Schmerz richtig fühlen und wahrnehmen konnte. Langsam verstand er es selbst nicht mehr, verstand allerdings genauso wenig, wieso es so war.

Er spürte den kühlen, packenden Wind auf seinem Gesicht, während er durch die Straßen lief, die Hände in den Taschen vergrub und die Welt wie in flackernder Wahrnehmung wahrnahm. Was war mit ihm falsch gelaufen? Wieso bist du so? Wann hatte seine Psyche entschieden, dass es wieder so weit wäre, noch einen drauf zu setzen? Wie kommt es zu deinem beschissenen, chaotischen Kopf? Wieso konnte er nicht normal sein? Wieso kannst du nie normal sein? Wieso musste er einen Teil von sich verstecken, um er selbst zu sein? Wieso verhälst du dich, als ob du einer der Machos von der Straße wärst? Sein Kopf dachte zu viel, das tat er schon immer. Und er würde es nie abstellen können.

Er kam nach Hause, endlich. Als die Wohnungstüre hinter ihm zu fiel, fühlte er sich merkwürdig erleichtert. Ihn trennten Wände, Türen und Fenster von der restlichen Welt. Und er fühlte sich alleine, obwohl seine anderen zwei Mitbewohner auch da waren. Zwei? Nein, nicht zwei. Dort war diese Stimme, dieses dumpfe Raunen, welches nur er hatte. Seine Stimme. Diese Stimme, die ihn lächeln ließ. War es eine Einbildung? Er hörte zu, wie er mit den anderen wieder lachte und zustimmend zu Dingen murrte, die ihre zwei Mitbewohner von sich gaben. William hängte seine Jacke auf, so wie immer, doch anders als sonst, hatte er Angst, das Wohnzimmer zu betreten. Diese Stimme, wie wunderschön sie immernoch klang.
»Hallo William.«

Lost Souls | boy×boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt