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Enrico:

Wenn er seine Gefühle durcheinander brachte, hatte er sich früher immer eine Tasche mit etwas zum Trinken, ein bisschen Geld und Kleinigkeiten die man einfach brauchte gepackt, und war von Zuhause weggelaufen. Es war so einfach, sich seinen eigenen Weg zu suchen und nach zwei Tagen draußen unterwegs sein einfach wieder nach Hause zu kommen. Nun hatte er keinen Spaß mehr daran. Er mochte es nicht mehr, durch die vollen Straßen zu laufen, vorbei an geschäftigen Business-Leuten und besoffenen Obdachlosen. Langsam aber sicher begann er zu vermissen, was er verlassen hatte. Es fühlte sich an, als ob er seine Zweite, immer bei ihm bleibenden Familie zurückgelassen hatte.

Wenn er versetzt wäre, würde er seine Kollegen wohl eher nicht wiedersehen, doch so genau wusste man das eigentlich nie. Und er hatte keine Ahnung, wie schwer es für ihn werden würde, hier wieder weg zu gehen. Es würde sein Herz brechen, während er vor Freude überlaufen würde. Klar, er liebte seinen Job, würde ihn trotz der Härte gegen nichts eintauschen, jedoch war der Abschied von den Menschen, die er am meisten mochte, einer der schwersten überhaupt. Und das jedes Mal aufs Neue. Mindestens neun Jahre hatte er noch vor sich, was bedeuten würde, dass er diesen Abschied noch mindestens zwei oder dreimal mitmachen musste. Manchmal war es schwierig für ihn, einfach weiter zu machen. Und doch tat er es. Er arbeitete und arbeitete und arbeitete, bis er nahezu zusammenbrach. Inzwischen wusste er, dass einige andere das in seinem Job genauso handhabten.

Die Gedanken kreisten, waren laut, ließen ihn nicht schlafen. Als er auf die Uhr sah war es 3:52 Uhr. Klar, er müsste morgen nicht früh aufstehen und generell war sein einziger Job momentan da sein und auf die Wohnung aufzupassen. Oder, anders formuliert; sein Job war, so zu tun als hätte er keinen. Er richtete sich auf, schlug leise seufzend die Decke beiseite und rappelte sich auf. Ihm war unglaublich warm, weshalb er nur in Jogginghose gekleidet nun in seinem Zimmer stand. Es war ihm relativ egal, wenn jemand ihn so sehen würde, also öffnete er die Tür, ging leise durch den Flur und in die Küche, in der Hoffnung, dass ein Glas kühles Wasser seine Sinne bereinigen würde.

Leise füllte er sich ein Glas Wasser vom Wasserhahn ab und trank es direkt in zwei Zügen aus, dann füllte er es sich erneut auf. Seine Beine führten ihn ins Wohnzimmer, genau wie letzte Woche ließ er sich auf die Couch fallen und bemerkte, dass auf dem Balkon jemand stand. William rauchte. Inzwischen wurde ihm bewusst, dass Rauchen für Liam eine Art Ventil war, welches er bei jedem noch so kleinen Problem mit sich selbst oder seinem Leben nutzen konnte. Liam rauchte, wann immer er konnte. Ob dieses Verhalten allzu gesund war, konnte er nicht beurteilen.

Sie sollten reden, kam ihm in den Sinn. Reden, über die Dinge, die zwischen ihnen standen. Reden, weil sie nun mehr Zeit hätten, als vor circa drei Jahren. Und selbst wenn niemand von ihnen die richtigen Worte finden würde, hätten sie es wenigstens versucht, oder nicht? Reden wäre eine Maßnahme, doch eigentlich wollte er lieber noch länger stumm genießen, wie es sich anfühlte, bei ihm zu sein. Enrico bildete sich ein, erneut Liams Hand in seiner zu fühlen, wie sie sie warm und schützend hielt. Es hatte sich so perfekt und richtig für den Moment angefühlt, dass er sich am liebsten nie wieder bewegt und diese Minuten eingefroren hätte. Doch es konnte nicht richtig gewesen sein. Für ihn selbst wäre es akzeptabel, bi zu sein, doch sobald er zurück zu seinen Eltern müsste, würde seine Welt in sich zusammen stürzen, wie ein Kartenhaus, welches man umgestoßen hatte. Und er wäre unter diesen Scherben begraben liegen.

Er sah an die Decke, ließ die Ruhe seinen Körper einnehmen und versuchte, seine verspannten Muskeln zu lockern. »Du musst reden, wenn du die Menschen, die du liebst in deinem Leben halten möchtest«, schoss es ihm durch den Kopf. Sein Vater hatte ihm immer solche Tipps gegeben, hatte ihm immer das Richtige sagen können und ihn offensichtlich für sein Leben vorbereitet, doch nun schien dieser Tipp für'n Arsch zu sein. Wenn er reden würde, würde er verlieren, doch genauso sah es mit dem nicht-reden aus. In beiden Fällen würde William sich abseilen, so wie er es immer in Situationen getan hatte, in denen es ihm zu ernst geworden war. Sie waren nicht füreinander gemacht, wieso sollte er es also noch versuchen?

»Was machst du hier?«, fragte seine raue Stimme, er sah hoch. Liam schloss die Balkontür leise hinter sich, räusperte sich dann und sah vom Boden auf. Nicht nur sah er verheult aus, nein, er hörte sich auch so an. Und das tat ihm irgendwie im Herzen weh. Er wollte, dass es dem jungen Mann vor ihm gut ging, dass er nicht mehr leiden müsste. Bestimmt hatte er dies in seiner Vergangenheit genug durchmachen müssen. Sie sahen sich an, wie ein stummer Austausch. Sie sahen sich einfach an, stumm, ohne dass sie unterbrochen werden konnten. Für den Moment waren dort nur noch sie beiden, die Welt schien stehen zu bleiben, nur um sich dann ganz langsam um sie herum weiter zu drehen.

»Frag gar nicht erst weiter nach. Ich brauch nichts, ich will nichts, vorallem kein Verständnis oder Mitleid. Nacht.« Liam brach den Blickkontakt ab, beendete die Ruhe in und um ihn, ließ der Welt erneut ihren normalen Alltag und zerstampfte seine Hoffnung, sowie sein Herz. Enrico war alleine. Kurzzeitig hörte er nur noch, wie sein Herz wild gegen seine Rippen schlug, das Blut in seinen Ohren rauschte und er das Gefühl für die Welt verlor. Er hielt das Glas fester bei sich, versuchte, es nicht fallen zu lassen und nahm langsam einen weiteren Schluck, bevor er die komplette Kälte seinen Hals hinunter laufen ließ. William hatte nicht von Mitleid und Verständnis gesprochen, das wussten sie beide. Er hatte nach einem Synonym gesucht, um sich vom Hals zu halten, was er anders nicht von sich hätte halten können. Und trotz seiner synonymischen Sprache verstand er, was gemeint war - oder viel mehr wer.

Das Leben kreiert Menschen, um sie zu zerstören - das war seine Meinung. Es ließ sie alle wie abgeschnittene Rosen in Vasen verwelken, austrocknen, sterben, alles für nichts und wieder nichts. Wie in einem Spiel behandelte es sie, nutzte sie alle für Zwecke anderer, so lange, bis sie unbrauchbar werden würden. Und dann würden sie weggeschmissen, platt getrampelt oder verbrannt werden, als ob sie niemals wirklich existiert hätten. Und das alles, damit der Lauf der Dinge weiterhin existieren könnte. Sie waren der Lauf der Dinge - quasi Alltag. Und vielleicht war dies alles etwas zu weit hergeholt, doch für ihn beschrieb es genau die Bereiche im Punkto leben, die er sich nicht anders erklären konnte oder mochte. Das Leben war unfair, und das irgendwie zeitgleich zu allen.

Lost Souls | boy×boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt