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Enrico:

Nach Hause zu kommen war eine Erleichterung für ihn. Der Weg war zwar lang und er brauchte fast zwanzig Minuten, bis er in der Wohnung stand, aber immerhin hatte er es geschafft. Es war anstrengend, mit Krücken überall hin laufen zu müssen, für jeden Weg die doppelte Strecke zu brauchen, da er nicht mit der Umstellung klar kam - okay, dazu kam auch noch, dass er es kaum ignorieren konnte, wenn er Nachrichten bekam. Irgendwie funktionierte die Kommunikation zwischen ihnen, auch wenn sie holprig war. Manchmal erzählten sie sich von ihrem Tag oder was sie so als nächstes vorhatten. Liam schrieb ihm, dass er mit seinem Vater ein Kunstmuseum besuchen wollte, und Enrico hatte ihm im Gegenzug von seiner Physiotherapie erzählt. Ihre Nachrichten waren ein Hin und Her, eine Info nach der Anderen. Doch es tat gut, all das los zu werden, sich aufregen zu können oder zu verzweifeln. Es tat gut, zu wissen, dass man nicht so alleine war, wie man sich fühlte, fand Enrico.

Liam's Vater schien nett zu sein, wenn man seinen Worten Glauben schenken mochte. Er schien seinen Sohn zu unterstützen wo er konnte und ihm jeden Wunsch zu erfüllen, der nicht über sein Budget oder seine Menschlichkeit hinaus gingen. Es fühlte sich gut an, ihn in sicheren Händen zu wissen. Und trotzdem fühlte er sich alleine. Vielleicht nicht unbedingt einsam, aber irgendwas in ihm fühlte sich verlassen, alleine dastehen gelassen. Um ihn herum war so gut wie immer jemand - Jules und Timothy schienen sich mit ihren Schichten abzuwechseln, damit er nicht alleine Zuhause wäre. Und das war nervig, um ehrlich zu sein. Es war nervig, dass er sich neu an die Räume und das Bewegen in ihnen anpassen musste. Es war nervig, dass er nie alleine gelassen werden konnte. Es war nervig, dass er kaum etwas selbst auf die Reihe bekam.

Am vierten Tag, an dem Liam nicht mehr da war und somit am zweiten, an dem Enrico wieder Zuhause war, schrieben sie weniger als zuvor. Liam hatte gesagt, dass er den ganzen Tag über beschäftigt sein würde und kaum Zeit hätte, um auf sein Handy zu schauen und Nachrichten zu schreiben. Als Enrico das gelesen hatte, hatte es sich wie ein Schlag in die Magengrube angefühlt. Als ob sein Freund sich immer und immer weiter von ihm entfernen würde, bis sie sich irgendwann als Fremde gegenübertreten würden. Aber klar, für Liam ging der Alltag weiter. Für Liam drehte sich die Welt weiter, wie immer, wenn er ein Problem gehabt hatte. Manchmal hatte er das Gefühl, dass Liam sich so häufig selbst wieder aufgebaut hatte, dass er es immer wieder tun würde und könnte.

Er hatte ziemlich viel aufgegeben, ziemlich viel zurückgelassen, hatte sich niederschlagen und später aufhelfen lassen. Und doch hatte all das Spuren hinterlassen. Manchmal erinnerte ihn die momentane Zeit an seine Jugend, als nicht er fiel, sondern Liam. Er hatte seine Gefühle nie nachvollziehen können, hatte nie selbst solche starken Emotionen und Bindungen ausgeprägt, doch sein momentanes Gefühl schien das zu sein, was am nähesten an seine drankam. Er fand es gruselig, in diesen ständig ängstlichen, dauerhaft niedergeschlagenen und kaum mehr optimistischen Gefühlen gefangen zu sein. Doch irgendwie schien es ihm keinen Ausweg daraus zu geben.

Den ganzen Tag über war's still. Nicht nur auf seinem Handy, sondern auch in der Wohnung. Timothy sah sich mit Kopfhörern irgendwelche Videos auf seinem Laptop an, hatte es sich auf der Couch gemütlich gemacht und schien von seiner Umwelt nichts mitzubekommen. Und Jules war - natürlich - bei der Arbeit. Sie ging in letzter Zeit generell nur noch an drei Orte; Arbeit, WG und irgendwelche Bars. Und immer, wenn sie in einer solchen Bar war, dann kam sie betrunken und mit weniger glatten und ordentlichen Haaren zurück nach Hause, entschuldigte sich dafür, dass sie getrunken hatte, kotzte und ging ins Bett. Sie war verändert, seitdem sie trank. Früher hatte sie Alkohol abgelehnt, bis es zwanzig Uhr war, und dann hatte sie maximal ein Glas Bier oder Wein getrunken. Und nun trank sie manchmal schon die ersten Shots gegen mittags. Ihre alte Jules hatte sie ganz tief in sich vergraben, irgendwas in ihr hatte übernommen.

Tim hatte ihm mal gesagt, dass Jules sich das Trinkverhalten ein wenig von Liam abgeguckt haben könnte. Doch in diesem Ausmaß hatte selbst er nicht getrunken. Enrico dachte, dass die Gründe zum Trinken für die beiden so weit auseinander gingen, dass es sich auch anders ausgeprägt hatte. Jules könnte nicht mehr aufhören, Liam hatte es aus dem Trinken herausgeschafft und hatte auch irgendwann mal gesagt, dass er nicht wieder anfangen wollte. Liam hatte getrunken, bis er eingeschlafen war oder gekotzt hatte oder er sich wieder gut fühlte. Er hatte getrunken, um die Leere zu füllen und den Schmerz zu beenden, um ein Ventil zu haben, welches immer erreichbar wäre. Jules trank ständig, kannte kaum eine Grenze und hörte auf nichts mehr. Sie trank gegen den ganzen Schmerz, der ihr aufgrund des Beziehungsendes zugefügt wurde. Klar, sie war noch immer ihre weise Jules mit den hilfreichen Tipps, und manchmal bemerkte man auch kaum, wenn sie schon getrunken hatte, doch jeden Abend schien ihr Zustand schlimmer zu werden, die Tränen mehr.

Abends musste Timothy in den Club, versprach Enrico, dass er Jules sofort nach Hause schicken würde, würde er sie sehen, da sie immer noch nicht da war. Sie hielt sich selten an Abmachungen, ganz anders als die Jules, die er noch von früher kannte. Und dann war er alleine in der Wohnung, die Stille schien sich plötzlich in die Wände gesogen zu haben und die Leere breitete sich überall in Sekundenschnelle aus. Er hasste es, er selbst zu sein. Eigentlich hasste er nur diesen Zustand, die Tatsache, dass er nicht mal mehr arbeiten könnte, wie er es bisher immer getan hatte, da man mit einem versteiften Bein wohl eher weniger schnell laufen, fliehen, sich ducken oder fahren konnte.

Eine halbe Stunde verging und dort war kein Anzeichen von Jules. Tim hatte ihm geschrieben, dass er Jules nicht getroffen hatte, hatte sich entschuldigt, dass er schon gegangen war, doch für ihn war es kein Problem. Es war nicht Tims Versäumnis, sondern Jules'. Dass er alleine war, war an sich nicht schlimm, dass er sich jedoch selbst momentan nicht so einfach verpflegen konnte und kaum eine Ahnung hatte, wie er es morgens immer aus dem Bett ins Wohnzimmer und zurückschaffte, jedoch schon. Bewegen tat weh, Humpeln war anstrengend und selbst Schlafen konnte er manchmal nicht, weil ihm sein Bein weh tat und dieser Schmerz sich in seinen Körper zu ziehen schien. Und das war unglaublich - wie Liam es früher gesagt hätte - abgefuckt.

Irgendwann huschten seine Finger zu einem gewissen Chat, tippten auf das Telefonsymbol und auf den Lautsprecher. Es klingelte. Erst einmal, dann zweimal, dann dreimal. Er nahm nicht ab. Sechs, sieben, acht. Nichts. Keine Reaktion von Liam. Schließlich sprang die Mailbox an, er legte auf, schloss leicht genervt die Augen und lehnte den Kopf in den Nacken, um einmal tief durchzuatmen. Natürlich ging er nicht dran. Er hatte gesagt, dass Enrico ihn immer anrufen könnte, dass er dann da wäre. Also, wo war er nun?

Heute:

Wollen wir heute Abend telefonieren? - 9:14 Uhr

Klar ruf mich einfach an - 10:58 Uhr

Also kein telefonieren? Seid ihr noch unterwegs? - 20:43 Uhr

Liam las seine Nachricht nicht mal. Den ganzen Abend lang schrieb er nicht, selbst als Jules gegen 22 Uhr endlich Zuhause war, hatte Liam kein Lebenszeichen von sich gegeben.

Nachdem seine Mitbewohnerin im Bett lag - die Diskussion war endlos lang gewesen und hatte ihn selbst müde gemacht - putzte er sich endlich selbst die Zähne - im Sitzen wohlgemerkt. Er fragte sich schon die ganze Zeit, warum er sich auf diese Beziehung, die sich kaum mehr wie eine solche anfühlte, eingelassen hatte. Es war dumm und unüberlegt gewesen, zu glauben, dass das irgendwie funktionieren könnte. Denn offensichtlich funktionierte es nicht. Es gab dort immer diese ewig langen Antwortzeiten, dieses endlose Warten auf eine neue Nachricht. Immer das Gefühl, dass mit ihnen nicht alles so im Reinen sein konnte, wie es sein sollte.

Und dann blinkte sein Handy auf.

Sorry hab deinr nacbricht nixht geseheb – 23:56

Lost Souls | boy×boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt