William:
»Wo warst du?« Jules sah ihn streng und mit in die Hüften gestemmten Händen an, als er die Tür hinter sich schloss. »Spazieren, hatte gehofft mich 'n bisschen ablenken zu können.« »Du riechst nach Zigaretten.« Ihre Feststellung ließ ihn zögern. Was antwortete man auf sowas? »Ähh ... ja ... passiert. Ablenkung hat ... in anderer Form stattgefunden.« In ihrem Gesicht zeichnete sich Enttäuschung ab, er drückte sich an ihr vorbei und ging in die Richtung seines Zimmers, ohne sich nochmal umzudrehen. »Sind das die Zigaretten, die dich so locker und ... irgendwie weniger niedergeschlagen aussehen lassen?« Daraufhin drehte er sich doch nochmal um, ein kleines Lächeln auf seinen Lippen. »Nein, das liegt daran, dass ich mit meinem Vater telefoniert habe.« Sie zog eine Augenbraue hoch, sah ihn misstrauisch an, doch anscheinend sah sie auch, dass das etwas Gutes war. »Du hast also nen Vater, interessant.« Er lächelte leicht, zeigte ihr nen Vogel und ging in sein Zimmer, nachdem er ihr neckendes Lächeln gesehen hatte.
Er fühlte sich angenommen, seit dem Gespräch mit seinem Vater. Er fühlte sich erleichtert, als ob er ihm eine schwere Last von den Schultern genommen hatte. Bald wäre er weg. Bald könnte er reden. Bald war's vorbei mit dem Schweigen. Irgendwie freute er sich, hier weg zu kommen. Und genau das fühlte sich falsch an. Er freute sich darauf, sein Zuhause, den Ort, der ihm immer Halt in jeder Lebenslage gegeben hatte, zu verlassen. Hier waren die Menschen, die immer für ihn da waren, die Menschen die ihn kannten. Und doch war hier vielleicht zu viel passiert, als dass es sein perfektes Zuhause sein könnte.
Die Vorfreude und Erleichterung blieben nicht lange. Irgendwann waren die Müdigkeit und der Schmerz der letzten Zeit doch überwiegend. Irgendwann endete er mit einer Zigarette zwischen den Fingern am geöffneten Fenster, dachte wiedermal nach und rauchte. Er war schon so lange nicht mehr an diesem Punkt gewesen. Es fühlte sich an, wie am anderen Ende des Abgrundes zu stehen. Schon lange hatte er die Autos nicht mehr beobachtet, beim letzten Mal um diese Uhrzeit war es stockdunkel gewesen. Die Sonne blieb inzwischen länger auf, tauchte die Stadt gerade in ein sanftes Orange. Und die Atmosphäre, die unter diesem Licht entstand schien ihm nun viel zu romantisch, viel zu friedlich und still zu sein, für all das, was in ihm vorging.
In ihm war ein großes Chaos. Ein Chaos, über welches er die Kontrolle so einfach verloren hatte, als ob sie nie da gewesen wäre. Chaos, welches ihn nachdenklich machte. Chaos, welches alles ins Schwanken brachte. Hätte sein Leben einen tieferen Sinn, müsste er es nicht hinterfragen. Wäre er für irgendwas oder irgendwen in diesem Leben bestimmt, würde er nicht davor weglaufen. Und wäre dieser Ort der richtige zum Bleiben, dann würde er sich nicht so falsch anfühlen. Seine Gedanken waren verworren, und immer, wenn sie die Richtung zu Rico einleiteten, dann zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen, genauso wie sein Magen. Jeder erfuhr Liebe anders, sagte man sich. Und doch hatte er das Gefühl, dass die Liebe die er erlebte, niemals die richtige sein könnte.
Er hörte die Wohnungstüre auf- und zugehen, hörte die versucht leisen Schritte von Timothy auf dem Linoleumboden, dann schloss er seine Zimmertüre hinter sich. Anscheinend verlor er gerade wirklich nahezu jeden, den er liebgewonnen hatte. Es war nicht schön, immer zu verlieren. Es verletzte, zog einem schmerzhaft langsam das Herz aus der Brust. Manchmal fühlte es sich für ihn so an, als ob seine Freunde Klauen hätten, die sich in sein Fleisch bohrten und nur auf einen Fehltritt von ihm warteten, um sie durch seine Hautschichten zu ziehen. Auch wenn es merkwürdig war, so über die Personen, die man zu lieben begonnen hat nachzudenken, stellte er sich dies immerzu vor. Es war wie als ob sie ihm Wunden zufügen wollten, nur um sie dann wieder zu heilen, ihn zu pflegen. Irgendwie war der Gedanke verrückt.
Draußen wurde es immer dunkler, die Autos und Menschen wurden weniger, die Lichter im Haus gegenüber wurden etagenweise ausgeknipst, bis nur noch ein Typ unterm Dach seines anhatte. Er kannte nicht viele Menschen aus dieser Nachbarschaft, doch er wusste, dass der Typ unterm Dach gegenüber bi war und sich viel zu wohl in Schwulen-bars fühlte. Lag vielleicht aber auch daran, dass andere Menschen Menschenmassen und schwitzige Körper, die sich beim Tanzen aneinander rieben mehr mochten als er. Seine Sicht auf die Dinge war manchmal eben ein wenig merkwürdig, ein wenig so, als ob er alles hassen würde, auch wenn das im Wesentlichen nicht stimmte. Eigentlich hatte er keine Ahnung mehr, was er noch mit seinem Leben anfangen sollte, er hatte keine Idee davon, wie es weiter gehen könnte, wenn er hier her zurückkam. Vielleicht könnte er einen Neuanfang wagen? Sein Umfeld versuchen zu akzeptieren und sich mehr darauf einlassen?
Die Gedanken um die Zukunft verfolgten ihn, sobald er einmal dran gedacht hatte. Früher war es ihm egal gewesen, welchen bleibenden Eindruck er bei den Menschen hinterließ. Früher hatte er nicht erwartet, dass er überhaupt älter als zwanzig werden könnte. Zwar hatte er nach dem Versuch, der ihn ins Krankenhaus gebracht hatte, nie mehr ernsthaft darüber nachgedacht, sich umzubringen, doch er hatte immer gedacht, dass irgendjemand anderes dies für ihn tun würde. Dass irgendjemand ihn möglicherweise durch einen Unfall lebensbedrohlich verletzen würde oder sowas in der Art. Und doch war er noch immer hier, schwebte in seiner einsamen Blase aus Leere und Isolierung, die er nicht durchstechen konnte und fragte sich, wo der Sinn des Lebens lag.
Er drückte die Zigarette am Fensterbrett aus, schnipste den Stummel hinunter auf die Straße und behielt den Blick auf dem Haus ihm gegenüber. An seiner Tür klopfte es, sie ging auf, er drehte sich nicht um. »Liam?« »Hm?« Jules' Stimme war leise, nahezu weinerlich, doch sie weinte bestimmt nicht. »Ich glaube ... also ... Enrico ... er braucht dich.« Doch, sie weinte. Liam drehte sich um, sah sie sanft an und ging langsam auf sie zu. Sie schloss seine Zimmertüre hinter sich, sah ihn aus großen, roten Augen an und er wusste quasi sofort, was los war. »Du hast getrunken, Jules.« Seine nüchterne Feststellung ließ ihre Augen groß werden, sie schüttelte leicht benommen den Kopf. »Vielleicht ein bisschen.«
Stille breitete sich im Raum aus, er spürte, wie viel Empathie dort in ihm war, die er nicht zum Ausdruck bringen konnte. Er hatte kaum eine Ahnung, wie man richtig mit Betrunkenen umging, wie man Menschen die weinten tröstete oder ähnliches. Sie setzten sich auf sein Bett, Jules lehnte ihren Kopf an seine Schulter und er legte zögerlich den Arm um ihre schmalen Schultern. »Um wen geht es hier wirklich? Enrico oder ein Mädchen?« Jules flossen weitere Tränen über die Wangen, sie begann zu schluchzen, wollte nahezu hysterisch etwas erklären, doch im Endeffekt schlang sie nur die Arme um seine Taille und lehnte ihren Kopf an seine Brust, weinte in sein nach Zigarettenrauch stinkendes Shirt und ließ sich von ihm halten. Sie war sanft, auch wenn sie weinte, ihren Schmerz rausließ. Sie war sanft, und trotzdem drückte sie ihn so fest an sich, dass er das Gefühl hatte, in einer Art Knast zu sitzen. Er schien die Abdrücke des Fremden unter ihren Händen zu spüren. Und das hasste er.
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Lost Souls | boy×boy
Ficção AdolescenteI'm a lost soul in a lost city. A lost soul in lost people. A lost soul with a beating heart. Do I have to continue? Er dachte, dass er ihn nie wieder sehen würde. Er dachte, dass er seine Chance verspielt hatte, dass ihre Wege sich nie wieder kre...