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William:

Er rannte durch die Wohnung, hektisch und ohne Halt. Es war Samstag, was bedeutete, dass nur Timothy nicht da war, da er Samstags häufig Schichten übernahm. Timothy war generell zu nett für diese Welt, auch wenn er mit seinen Ansichten und Meinungen häufiger mal Leute auf die Palme brachte.

Hektisch rannte er den Flur entlang, rempelte gegen Enrico und entschuldigte sich, dann rannte er weiter, in die Küche, rannte aus dieser wieder raus, durchs Wohnzimmer und auf den Balkon. Nichts. Zwei Dinge suchte er, keines war dort, wo er es erwartet hatte. Und das unbedingt heute. Heute, wo er einen Termin hatte und eigentlich schon vor zwei Minuten hatte weg sein müssen. Wieso passierte ihm sowas immer? Er verlegte alles was er brauchte, ständig und überall. Dazu kam, dass er einen genauen Zeitplan hatte, mit dem er meistens nicht zu spät kommen würde, und eine solche Suche nach verlorenen Gegenständen hatte er nicht mit einberechnet.

Er trat wieder ins Wohnzimmer, schlug sich vor Verzweiflung mit der Faust gegen die Stirn und überlegte, wo er was hingelegt hatte. Enrico fragte Jules im Hintergrund, was er denn eigentlich suchen würde, doch auch sie schien keine Ahnung zu haben, da sie nichts erwiderte. Dadurch, dass Liam die Augen geschlossen hatte, um sich besser darauf zu konzentrieren, wo er noch suchen könnte, bemerkte er erst, dass Enrico zu ihm gekommen war, als er ihm die Hand auf die Schulter legte. Sie sahen sich an, still schweigend. Dann schüttelte er den Kopf und der Größere seufzte halbherzig, als ob er diese Form des nein-ich-brauche-keine-Hilfe-Sagens schon erwartet hätte. Sie kommunizierten blind, was Liam an ihre Schulzeit erinnerte, und daran, wie gruselig es war, dass sie scheinbar immernoch die Blicke des jeweils anderen lesen konnten. Sein Körper kribbelte und er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schießen wollte. Also wandte er sich ab, ging mit halbwegs kontrollierten Schritten aus dem Raum und zurück ins Bad. Wieso verdammt nochmal waren diese beschissenen Gefühle für Enrico immernoch da?

Er würde zu spät kommen, wurde ihm klar, als er endlich alles beisammen hatte und aus dem Haus treten konnte. Wenn er sich beeilen würde, würde er vielleicht wenigstens noch nen Bus bekommen, ansonsten zum abgemachten Termin pünktlich zu erscheinen würde eher schwierig werden. Wieso hatte er sich denn bitte auch auf ein Treffen eingelassen? Er war doch echt komplett bescheuert. Denn eigentlich hatte er nicht das Bedürfnis, seine Mutter zu sehen, nach all dem, was passiert war. Doch vielleicht, ganz vielleicht, würde es ihnen beiden gut tun, nochmal zu reden, in Ruhe und ohne die Gefahr, dass einer ausrastete.

Am Anfang joggte er nur durch die Straßen, dann rannte er ein kleines Stück um die Ecke und joggte schließlich weiter. Wenigstens ein bisschen schneller würde er so voran kommen. Und auch wenn es ihm unangenehm war, die Blicke der anderen Passanten auf seiner Haut zu spüren, wie er wie ein irrer durch die Straßen und Gassen und Winkel zu joggen schien, lief er einfach weiter. Heute Abend würde er sich dafür vermutlich unglaublich schämen.

Dieses Joggen war kein Vergnügen für seine Raucherlunge, da er schwer nach Luft schnappend an der Haltestelle ankam und in seinen Bus stieg. Sport war halt noch nie wirklich seine Leidenschaft gewesen, und würde es auch niemals werden, wie er vermutete. Über den Sitzplatz im Bus in der hintersten Reihe war er heute nur noch dankbarer, als normalerweise. Er versprach Liam fürs Erste Ruhe und eine halbwegs entspannte Fahrt. Als der Busfahrer fuhr, saßen gerade Mal zwei andere Personen in den vorderen Sitzreihen - eine Frau mit einem Outfit, dass sie nur zu einer schicken Party tragen konnte und eine weitere, welche in blaue Jeans und eine neon gelbe Warnweste gesteckt und mit einer unförmigen Mütze auf dem Kopf da saß. Beide müsste er die Fahrt über nicht mehr beachten, wie er kurzerhand beschloss, nur um den Blick abzuwenden und aus dem Fenster die vorbeifliegenden Leute, Läden, Straßen, Schilder und Autos zu beobachten.

Die Welt war ein Ort, den er immer hinterfragte. Vieles war so unlogisch, dass sich keine Erklärung dafür fand. Dazu musste man beachten, dass er zu seinen Schulzeiten 1er bekommen hatte, als ob sie nur so vom Himmel fielen. Doch für Autismus konnte auch er nichts. Es gehörte manchmal dazu, alles verstehen zu wollen, auch wenn einem dies niemand erklären konnte. Niemand könnte ihm jemals die ganze Welt erklären, bis ihm seine Fragen ausgehen würden, somit würde er sie niemals ganz verstehen. Es war wie ein Fluch; eine Art Zwang, den man niemals los wurde. Ein Zwang, den er nicht erklären konnte. Einhergehend mit ein paar anderen mentalen Problemen war dieser Zwang ebenfalls ein Auslöser für sein Verderben. Eine Zeit lang hatte sich alles verschlimmert, seine Psyche sank tiefer und tiefer, er begann damit, Menschenkontakt aus dem Weg zu gehen. Niemand durfte ihn berühren, solange er bei Sinnen war. Er konnte das Gefühl nicht ertragen, berührt zu werden, hasste es, wie dieser widerliche Ekel sich durch seinen Körper gezogen hatte, sobald ein fremder Körper gegen den Seinen stieß. Dieses Gefühl ging nicht direkt weg. Wenn er trank wurde es besser, so dachte er am Anfang, im Endeffekt war er dazu übergegangen, sich heißes - richtig heißes - Wasser über die jeweiligen Stellen laufen zu lassen, bis sie selbst heiß und rot waren, verbunden mit diesem Brennen. Erst dann sagte sein Kopf, dass das Gefühl nun weg war.

Der Bus hielt, ein junger Typ Anfang zwanzig stieg ein, sie sahen sich an, dann setzte er sich in einen Vierersitz. Er saß so, dass er in Liams Richtung sehen konnte, somit konnte er sein Gesicht abscannen und daraus schließen, dass er einige Ähnlichkeiten zu Enrico aufwies. Dann wandte er den Blick ab, sah irgendwie auf eine erotische Art und Weise wie ein Modell dabei aus, und schaute aus dem Fenster. Genauso wie Liam zuvor, sah der Unbekannte nun den Straßen, Menschen und Läden dabei zu, wie sie in bunten Schleiern an ihnen vorbei flogen. Unterbewusst war sein Blick zurück zu dem Fenster gewandert, beobachtete die Welt erneut und lenkte ihn von dem bevorstehenden Ereignis ab. Er hatte keine Lust. Er wollte nicht dorthin. Wieso hatte er sich nur darauf eingelassen? Weiterhin war das Bedürfnis, seine Mutter wiederzusehen, nicht sonderlich groß, doch er konnte nicht verhindern, dass sich ein kleiner Funken Hoffnung in ihm ausbreitete. Sie würde nicht um ein solches Treffen bitten, wenn sie es nicht ernst meinen würde, richtig?

Liam drückte auf den Stop-Knopf, der Bus hielt an der Haltestelle ›Schiller-Straße‹ und er stieg aus. Wie automatisch schlug er den Weg nach rechts ein, da er noch immer wusste, wo er hin musste. Dadurch, dass seine Mutter Ausgang bekommen hatte, musste er sie abholen, was eigentlich ja kein Problem darstellen sollte, für ihn jedoch trotzdem eines war. Denn sobald sie das Gebäude verlassen hätten, würden sie alleine sein. Er wäre alleine mit ihr. Und dabei hatte er sich geschworen, nie wieder irgendwo alleine mit ihr zu bleiben. Auch wenn noch andere Menschen um sie beiden herum wären, wäre vermutlich niemand da, der ihm helfen könnte. Hoffentlich würde sie nichts tun und von nichts getriggert werden.

Lost Souls | boy×boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt