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Enrico:

Manchmal, da erinnerte er sich detailliert an grausame Dinge. An die Dinge, die ihm Schmerzen zugefügt hatten, die Dinge, die er getan hatte, um diese Schmerzen zu verdrängen. In der Schule war er immer der hyperaktive, beliebte Typ gewesen, mit dem alle Mädchen ausgehen wollten und dem alle Jungs hinterher liefen, um mit ihm befreundet zu sein. Niemand von ihnen hatte je gesehen, wie viel er irgendwann genommen und geraucht hatte. Jeder hatte die Finger nach der Aufmerksamkeit der Aufmerksamkeitsquelle ausgestreckt, um sie herum getanzt, als ob sie etwas ganz besonderes wäre. Klar, jeder wollte beliebt sein. Nur der Junge, der immer häufiger ins Rampenlicht gestellt wurde, der nicht. Dieser Junge, der stotterte, sobald er auf einer Bühne vor zu vielen Menschen irgendwas sagen sollte, egal, wie häufig er seinen Text durchgegangen war. Dieser Junge, der hatte nur das Talent, immer neue Wege zum weglaufen zu finden.

Als dieser Junge seine persönliche Stille, seinen persönlichen Frieden, in einem anderen Jungen fand, da begann er erstmals zu leben. Er begann das Leben außerhalb des Rampenlichts, außerhalb des Stotterns und des schmerzenden verspielten Grinsens. Plötzlich lebte er nicht nur in den Momenten, in denen er alleine über verlassene Pfade lief. Nein, er lebte. Er lebte, wie er leben wollte, solange er den Frieden an seiner Seite hatte. Die Stille, die hatte der Frieden mitgebracht. Und sie war die erste Stille gewesen, bei der er nicht das Gefühl hatte, sie durchbrechen zu müssen. Sie war die erste Stille gewesen, die er glücklich lächelnd akzeptierte.

Es war eine stumme Absprache gewesen, dass Aufmerksamkeit und Frieden immer nur umeinander liefen, nie wirklich stehen blieben. Dort war eine unausgesprochene Bedingung, welche lautete, sich niemals wirklich zu berühren. Keine Ahnung, wieso sie das nie taten, keine Ahnung, ob sie verbrannt wären, hätten sich ihre Häute berührt, vielleicht ihre Finger aufeinander gelegt. Jedoch taten sie es nicht. Sie sahen sich an, lächelten, redeten, schwiegen, waren sie selbst. Gegenseitig gewöhnten sie sich die generelle Scheu vor dem sie selbst sein ab, gegenseitig ermutigten sie sich zum Leben, immer und immer wieder. Und das so lange, bis einer von ihnen starb. So lange, bis sich seine Finger an die kühle Blässe schlichen, sie umschlangen und der Frieden plötzlich zu einem ängstlichen Lärm wurde. Er war gestorben, nur um wieder zurückzukommen.

Während sie lebten, da taten sie viele Dinge. Dinge die sie bereuten, Dinge die rückblickend das Beste gewesen waren. Irgendwann hatten sie begonnen, über beides zu grinsen, mit beidem ihren Spaß auszuleben. Nachdem er die Kühle berührt hatte, geschahen Berührungen immer wieder. Manchmal zufällig, und manchmal ganz absichtlich. Manchmal umarmten sie sich, lachten, während sie ihre Köpfe gegen den Körper des jeweils anderen pressten, um die Vibration ihrer Stimmen zu spüren, oder sie teilten sich eine Zigarette, berührten ihre Finger beim Übergeben dieser, als wäre sie ein Heiligtum. Und ja, vielleicht bereuten sie den ersten Kuss, doch er tat es nicht. Er hatte ihn ausgekostet, hatte ihn genossen, hatte halbwegs gewusst, was er da getan hatte. Und vorallem hatte er es geliebt.

Er ließ sich auf eine Bank fallen, spürte die Reue in seinem Herzen, genau unter seinen Rippen pochen. Das Handy lag ihm nahezu schwer in der Hand, als ob es Gewicht gewonnen hätte, während er es nicht benutzte. Er wählte, hob es an sein Ohr und wartete. Das Klingeln hatte was Beruhigendes, etwas Hoffnungsvolles, dass er nicht heute seine Angst überwinden müsste, sondern vielleicht erst morgen. Und dann nahm jemand ab.

»Enrico?« Seine Stimme schien erfreut, sehr sogar, da er sich nicht so häufig meldete. »Ja, hi Dad.« »Hi, wie geht's dir? Alles gut mit dir?« Enrico's Blick schweifte ab, sein Blick lag auf Gras, einem See, Bäumen und einem kleinen, matschigen Pfad. Ein Stückchen entfernt aber dennoch links von ihm, war die Straße, das Leben der anderen. »Ja, alles gut. Ich hoffe, euch geht's auch gut!« »Also jetzt wo du anrufst sicherlich.« Er holte tief Luft, wusste, dass seine Eltern es zwar akzeptieren, jedoch trotzdem komisch damit umgehen würden. Nur er wusste, dass er nicht aus Langeweile, nicht aus Belanglosigkeit angerufen hatte. Und kurz hatte er gehofft, er könnte einfach so tun, als ob er nur das Leben führen würde, welches er mit seinen Freunden und vorallem seinem Freund lebte.

»Du, ist Mom gerade da? Ich muss euch ... etwas erzählen.« »Ähm ...« Er hörte, wie sein Vater durchs Haus lief, die Bodendielen quietschten noch immer unter den Sohlen seiner Birkenstocks, welche er meistens als Hausschuhe trug. »Ja, sie ist da. Warte, ich mache dich mal auf laut!« Es dauerte mehrere Sekunden, dann hörte er, wie das Handy auf einen Tisch gelegt wurde und sein Vater ihn mit einem »so, bist auf laut«, zum Sprechen aufforderte. »Hi Mom erstmal!« »Hey, na? Was hast du uns denn zu erzählen? Alles gut mit dir?« Er grinste, sein Vater schimpfte im Hintergrund leise, dass sie ihn doch erstmal erzählen lassen sollte.

»Ähm ... also ...« Er räusperte sich, denn irgendwie fühlte er sich auch jetzt noch wie ein Teenager, der sich zum ersten Mal verliebt hatte und seinen Eltern zu erklären versuchte, dass er nicht nochmal aufgeklärt werden musste. »Ich hab mich verliebt. Ist schon etwas her, dass es frisch war, doch wir ... wir sind in einer Beziehung.« Vielleicht war es der falsche Anfang, dieses Gespräch einzuleiten, doch er befand sich immerhin schonmal an der richtigen Kreuzung. »Oh, wie schön! Wie heißt sie denn?«, fragte seine Mutter. »Kennen wir sie?« - sein Vater. Und jetzt kam der härtere Teil. Vielleicht war es auch einfach ein komischer Zeitpunkt, sich so zu outen, so seinen Eltern zu übermitteln, dass er mit seinem ehemaligen besten Freund zusammen war. Und doch wusste er, er musste auf diesen Pfad abbiegen, sonst würde er niemals irgendein Ziel erreichen.

»Es ähm ... ist kein Mädchen.« Stille. »Es ist ein Junge. Und ... ja, ihr kennt ihn.« Erneute Stille. Dann: »Ach, sag bloß es ist dieser ... wie hieß er noch gleich? Colin?« Seine Mutter klang erfreut, während sie diese Aussage tätigte. Ein Indiz dafür, dass sie Colin entgegen ihrer Aussagen doch zu dulden gelernt hatte. »Ja. Es ist Colin. Aber ... er wird inzwischen eher Liam oder William genannt, ist 'n bisschen kompliziert. Und ... eigentlich ist es wirklich schön mit ihm.« Stille. Bei sowas hasste er Stille, genauso wie unerwartete Seufzer oder einfach keine Reaktionen. Einen Moment konnte er nicht einschätzen, ob seine Eltern sich für ihn freuten oder mäßig enttäuscht waren, doch er hoffte, dass sie ihn akzeptieren und vorallem Liam herzlich und nett wie immer gegenüber treten würden.

»Na das ist doch wunderbar! Wir haben Colin schon so lange nicht mehr gesehen, also wie wäre es, wenn ihr mal zusammen zum Essen kommt? Dann können wir noch ein bisschen plaudern und ihn auch mal besser kennenlernen, diesen schüchternen Jungen.« Sein Vater seufzte, aber nicht enttäuscht oder so, eher, als ob ihm eine Last von den Schultern genommen worden war. »Er hat dich schon früher sehr glücklich gemacht und ihr habt euch immer gegenseitig gestützt und durch die Schule durchgezogen. Dein Glück zählt, Enrico!«

Und seine Eltern hörten nicht auf, ihm Mut zu machen, sie wollten die beiden unbedingt sehen und redeten und redeten immer weiter. Enrico lächelte nur leicht, summte im Takt ihres Erzählens, so wie er es immer tat. Auf die Aufforderung hin, dass sie mal zum Essen vorbeikommen sollten, hatte er nur geantwortet, dass er mit Liam sprechen und einen Tag ausmachen würde, an dem es für sie beide passte. Schließlich mussten sie ja auch noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch die halbe Stadt zu ihnen fahren. Und doch freute er sich jetzt schon auf diesen Tag, von dem er hoffte, dass dann für einen Moment alles gut sein würde, niemand von Gedanken und Gefühlen überwältigt, und alle gut drauf sein würden. Doch zwischen heute und diesem Moment lagen vermutlich noch ein paar Stunden.

Lost Souls | boy×boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt