William:
Ein Anruf. Nicht sehr originell aber immerhin. Keine Ahnung, woher seine plötzliche Motivation kam, um ihn anzurufen, doch er tat es. Wenigstens tat er es. Er wollte reden, jedoch nicht reinkommen. Er wollte reden, aber irgendwie auch nicht. Vielleicht verleitete ihn die Hoffnung darauf, sich weniger schuldig zu fühlen dazu. Denn die Schuld fraß sich inzwischen neben all dem anderen Scheiß durch jede Faser seines Körpers. Es klingelte nur, dann wurde er abgelehnt. Ein klares Statement, wie er fand. Dass das Ablehnen ihn stresste und irgendwoher Tränen in ihm auftreiben ließ, hätte ihm auch vorm Anrufen bewusst sein können.
Der Zigarettenstummel glimmte noch leicht zwischen seinen Fingern, als er ein letztes Mal daran zog und ihn schließlich ebenfalls auf dem Boden austrat. Rico hatte ihm eine Nachricht geschrieben, er hatte nur die Vorschau davon gelesen, um sie nicht zu öffnen. Den folgenden Teil konnte er sich gut genug dazu denken.
Kannst du auch schreiben? Ich habe ...
Besuch. Wahrscheinlich stand dort Besuch. Denn Enrico telefonierte nicht gerne, während er Besuch hatte, egal wo er war. Irgendwie verletzte es ihn, dass er ihn abgelehnt hatte. Es verletzte ihn, dass er nichts von ihm hören wollte. Liam sah zu dem Fenster hoch, welches Einblick in sein Zimmer hätte gewähren können, wären die Vorhänge nicht davor. Dann schrieb er doch.Ich liebe dich, Enrico. Doch ich kann nicht hierbleiben, das fühlt sich nicht richtig an. Mach Schluss mit mir, wenn es dir zu viel ist, auch wenn wir niemals richtig zusammen waren. Es tut mir leid. Was ich gesagt habe war falsch. Danke für alles, was du mir gegeben hast, ich hätte es dir gerne zurückgegeben, aber ich kann nicht. Danke, mi amor.
Während er im Zug zurück saß, starrte er seine Nachricht an, las sie tausendmal durch und wusste trotzdem nicht, ob sie genug war. Denn das war sie ganz offensichtlich nicht, sie war nicht wirklich aussagekräftig, doch sie brachte das Wichtigste zum Ausdruck; dass er ihn liebte und ihm dankbar war. Er las sie eine knappe halbe Stunde nachdem Liam sie verschickt hatte, ansonsten gab es kein Lebenszeichen von ihm. Nichts war dort, keine Nachricht, kein Anruf, kein Text, nur sein Profilbild. Sein Lächeln war kaum erträglich, er machte seine Musik lauter. Um die Gedanken zu übertönen, um sich abzulenken mit der Welt um sich herum. Bei dem Gedanken an Enrico durchzog ihn ein sanfter, nahezu lieblicher Schmerz. Liebe. Er liebte ihn. Und er vermisste ihn. Es war wie ein Mantra, welches Liam ohne ersichtlichen Grund in seinem Kopf wiederholte. Er würde nicht aufhören, ihn zu lieben, wenn er es nicht wiederholen würde - das wusste er. Doch es fühlte sich so an, als ob er Enrico damit etwas näherstehen würde, als ob es sie verbinden würde.
Die Sonne war warm heute, brannte nahezu schon aufgrund der Jacke, die er trug. Doch er zog sie nicht aus, im Gegenteil, er zog die Kapuze über seinen Kopf, schien gegen die Menschen anzulaufen, die nun Spaziergänge machten und bildete sich ein, dass jeder seinen Atem und seine Schritte hören könnte. Das hatte er auch schon in der Bahn gemacht, nur um daraufhin die Luft anzuhalten und zu bemerken, dass es zwecklos war. Die Menschen um ihn herum gingen raus, lachten, lebten, während die Sonnenstrahlen nicht mal seine Haut erreichen konnten, ihn zwar aufheizten, jedoch nicht wärmten. Sie machten ihn nur müde, änderten nichts an der Situation, in der er sich gerade befand. Natürlich änderten sie nichts, wie sollten sie.
Ein Anruf ging ein, stoppte seine Musik, woraufhin er sein Handy aus der Tasche zog und die Stirn krauszog. Sein Vater rief ihn kaum an, eigentlich so selten, dass er sich nicht daran erinnern konnte, jemals seinen Namen auf dem Display über dem Telefonsymbol gesehen zu haben. Verwirrt und leicht nervös ging er ran, lauschte in die Stille, die sich wie Minuten dahinzog. »Mama hat angerufen«, flüsterte er schließlich leise, Liam wusste sofort, weshalb sein Vater ihn angerufen hatte. »Wieso hat sie angerufen?« Sein Vater holte tief und leicht zittrig Luft, es war kein Geheimnis, dass ihm die Drohungen seiner Frau irgendwann Angst gemacht hatten und er sie für all das was sie war verabscheute. »Sie hat gesagt, sie wird zu dir gehen, würde dich und deine Freunde belagern und mitten in der Nacht ... einfach ...«, er brach ab, stockte und es hörte sich so an, als ob er seine Tränen und seine Angst zurückhalten müsste, »umbringen würde.«
Liam lehnte sich an eine Mauer, musste kurz stehenbleiben und an irgendwas halten, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Er kam mit den Drohungen und der Art seiner Mutter inzwischen relativ gut klar, da er wusste, dass alles leere Versprechen und Ansagen ohne Hintergrund waren, doch seinen Vater trafen diese tief, sobald es um seinen Sohn oder ihn selbst ging. Und auch wenn er wusste, dass sich diese Aussage nicht bewahrheiten würde und er sich in den letzten Tagen viel zu häufig den Tod gewünscht hatte, konnte er ein leichtes aufkommendes Zittern nicht unterdrücken.
»Das sind nur leere Versprechen, Dad. Sie hat meine Adresse nicht und außerdem ist sie eingewiesen. Sie kann nicht raus.« »Ich hab Angst um dich, Colin. Mehr als du es dir gerade vorstellen kannst.« Er lehnte seinen Kopf an die Mauer, lächelte ein sehnsüchtiges kleines Lächeln, ohne dass sein Vater es sehen konnte. »Ich bin bald bei dir. Dann wird mir erstrecht nichts passieren.« Liam stellte sich vor, wie sein Vater nun nickte, wie er tief Luft holte und fieberhaft nachdachte, was er noch sagen oder anmerken konnte, ohne dass es zu besitzergreifend klang. Sein Vater war toll, wirklich. Er liebte ihn. Und für ihn war das Herz seines Vaters groß genug, um seine Mutter vollständig zu ersetzen und zu verbessern.
»Soll ich dich Montag vielleicht abholen, Colin?« Er blieb kurz still, musste nachdenken, ob er das wollte oder ob es sich gut anfühlen würde. Doch sein Vater ließ ihn nicht zuende denken. »Dann könntest du deine Sachen in mein Auto laden, wir könnten was essen gehen und dann zu mir fahren.« »Also wenn du darauf bestehst, hab ich da nichts gegen.« »Dann hättest du schließlich auch nicht so einen weiten Weg und könntest mir deine Mitbewohner vorstellen.« Nun grinste er doch leicht. Das Angebot war nett gemeint, hörte sich seiner Meinung nach auch angenehm an, nur ob seine Mitbewohner was dagegen hätten, das wusste er nicht genau. Andererseits wüsste er nicht genau, in welchem Punkt dieser Plan Timothy oder Jules belasten würde.
»Okay, okay, überzeugt. Du kannst mich gerne abholen. Du scheinst ja nahezu ne Pro- und Kontra-Liste erstellt zu haben, um mich zu überzeugen.« Ein befreites Lachen am anderen Ende der Leitung ertönte, hallte leicht in seinen Ohren wider. »Ja na klar hab ich das. Alles für meinen Lieblingssohn!« »Du hast nur einen Sohn, Dad.« Inzwischen war Liam weiter gegangen, das Gespräch ging weiter und wurde immer lockerer, immer befreiter. Manchmal tat es eben doch gut, mit jemandem zu reden, von dem man dachte, dass man ihn nicht mehr bräuchte, dass man nun seinen eigenen Weg gehen und nicht mehr zurückschauen müsste.
Als sein Dad schließlich auflegte, war Liam fast Zuhause. Er bog um die Ecke, dann lief er die Straße halb hinauf und stand an der Haustüre. Irgendwas in ihm war weniger verletzt, weniger bedrückt. Er fühlte sich ... okay. So okay, wie er sich eben fühlen konnte, wenn sein Freund nicht auf seine Textnachricht reagierte und er gerade erst erfahren hatte, dass seine Mutter seinem Vater drohte, sein Leben zu beenden. Doch es war okay. Alles war okay.
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Lost Souls | boy×boy
Teen FictionI'm a lost soul in a lost city. A lost soul in lost people. A lost soul with a beating heart. Do I have to continue? Er dachte, dass er ihn nie wieder sehen würde. Er dachte, dass er seine Chance verspielt hatte, dass ihre Wege sich nie wieder kre...