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Liam:

Es war abend, als er endlich hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde. Tim war bei der Abend, hatte vom ganzen Streit so gut wie nichts mitbekommen, da er geschlafen hatte, und Jules hatte geschrieben, dass sie heute erst spät nach Hause kommen würde. Also musste es Enrico sein, der wieder in die Wohnung zurück kam.

Er saß auf der Couch, bereit, jeden Moment aufzuspringen und auf ihn zuzulaufen. Bereit, um nicht mehr zappelnd zu sitzen. Denn immer wenn ihm etwas leid tat, wenn Reue sich durch seinen Körper fraß und ihn zu verschlucken schien, da wurde er unruhig, bekam das drängende Gefühl, sich entschuldigen zu müssen. Dann konnte er nichts machen, sich nicht ablenken, sich nicht konzentrieren. Er war quasi nicht lebensfähig, wenn er sich schuldig fühlte, weil er zu viel oder zu wenig getan hatte. Denn sein Kopf schien sich immer aus Situationen auszuschalten, solange es keine Entschuldigung war, solange er sich nichts von der Schuld wegreden konnte.

»Liam?« Der junge Mann trat über die Schwelle zur Tür, sie sahen sich an und kurz wurde es still, bis Liam aufstand. »Liam, ich-« Er ließ ihn nicht ausreden, ging einfach schnell auf ihn zu und umarmte ihn überschwenglich. Nein, Entschuldigungen waren nichts was er beherrschte. »Tut mir leid, dass ich so viel nachgefragt habe, obwohl ich ansonsten nie frage! Du sollst nicht das Gefühl haben, dass ich mich nicht um dich sorge, denn das tue ich, wirklich! Tut mir leid, dass ich zu viel war«, flüsterte er den letzten Satz. »Liam, du-« Abrupt löste Angesprochener sich von ihm, fragte, ob er schon wieder zu viel wäre, doch Enrico schloss nur leicht lächelnd seine Hand um seine Wange, wog sie sanft und liebevoll.

»Du warst nicht zu viel, Liam. Ich habe nur nie geredet, war nie bereit dazu, obwohl es mich von innen zerfrisst. Ich denke, dass wir im Endeffekt beide ein paar Fehler gemacht haben, die mich irgendwie in den Wahnsinn getrieben haben. Und das tut mir leid! Ich hätte dich nicht anschreien, sondern einfach die Wahrheit aussprechen und bleiben sollen.« Liam lächelte, legte seine Hand an die von Enrico, welche immernoch an seiner Wange lag, und schob seine Finger in seine Handfläche, um ihn festzuhalten. Ganz sanft, als wäre es das erste Mal, wurde er vom Älteren geküsst, und danach umarmten sie sich, als ob sie dies tausend Jahre lang nicht mehr hätten machen können.

»Wir sind übrigens zu meinen Eltern eingeladen worden. Sie wollen dich nochmal sehen, nach all den Jahren.« Sein Flüstern war leise, vorsichtig, als ob er Angst hätte, dass jedes nun gesprochene Wort zu einem weiteren Streit führen könnte. »Wann und zu welchem Anlass?« Sie lösten sich voneinander sahen sich in die Augen, während sie noch immer dicht an dicht da standen. »Gibt noch keinen Tag, wollte erst mit dir besprechen, ob es für dich okay wäre, zu ihnen zu fahren. Und zu dem Anlass, dass wir zusammen sind und sie dich kennen.« Erneut begann Liam leicht zu lächeln, lehnte seine Stirn an die seines Freundes und betrachtete seine Augen. »Du hast es ihnen gesagt?« Ein wenig Stolz glänzte in den Augen des Anderen auf. »Ja«, antwortete er leise und küsste ihn erneut.

»Wie haben sie reagiert?« Enrico fuhr sich durch die Haare, zog den Jüngeren mit sich mit zum Sofa, offensichtlich, da ihm langes Stehen noch immer Schmerzen bereitete. »Ganz okay. Meine Mutter war süß, hat gefühlt schon längst von allem gewusst. Und mein Vater war ... still. Irgendwie zurückgezogen, aber trotzdem nett«, erklärte er sobald sie saßen. »Das ist gut. Ich bin stolz auf dich, dass du es ihnen gesagt hast!« Er lächelte, Liam wusste, dass dieses kleine Kompliment, trotz der Tatsache, dass es sehr nebensächlich geklungen hatte, ihn doch erfüllte. Als er selbst sich geoutet hatte, da hatte ihm niemals jemand gesagt, dass er unterstützt wurde. Niemand hatte ihm gesagt, dass er gut in Worte gefasst hatte, was er fühlte. Er hatte einfach auf die folgende Situation warten müssen, ohne irgendwelche Antworten auf seine Fragen zu bekommen.

In Zeiten, in denen niemand einen unterstützte, da konnten Worte und Komplimente, sowie Streitereien und merkwürdige Situationen vieles in einem auslösen. Später würde man sich an sie erinnern, an das Gefühl, welches man niemals wieder vergessen könnte, auch wenn es nur so schwach hinter den Rippen widerhallte. Und doch wusste man, dass es da gewesen war. Man wusste, diese Situation war ein Auslöser für eine gewisse Reaktion, wie Feuer auf Alkohol oder die Entschärfung bei einer Bombe. Und irgendwie hoffte er, dass das Nachklingen dieser etwas zu lauten Diskussion nicht mehr lange in ihren Köpfen widerhallen und sie nachts wachhalten würde. Er hoffte, dass alles zum Alten zurückfinden würde, dass alles weitergehen würde, wie sie es begonnen hatten. Allerdings hatten sie es auch schon aus größeren Krisen und Streits herausgeschafft, waren dadurch schlauer und irgendwie auch näher aneinander gebunden worden. Wenn er an ihre gemeinsame Vergangenheit dachte, da dachte er an Freiheit, an Liebe und Gelächter, an Einweisungen und das pure Leben, zeitgleich jedoch auch an Angst, an laute Worte, an Beleidigungen, die sie sich an den Kopf warfen. Und dann dachte er an das Krankenhaus. Dann dachte er noch an das Schlimmste, das er jemals hatte fühlen können.

»Enrico?« Der Ältere nickte auffordernd, spielte mit den Haaren des anderen, und doch sahen sie sich in die Augen. »Versprich mir, dass du nicht wütend wirst, wenn ich das jetzt sage!« »Ich werde nicht wütend, Angel!« Liam nickte, lehnte seine Stirn nun auf die Schulter seines Freundes und zog ihn näher an sich. »Bitte versprich mir, dass du das nächste Mal redest, bevor wir uns streiten! Ich möchte nicht, dass wir unsere Gefühle voreinander verstecken müssen. Egal, wie unpassend der Moment ist, können wir nicht einfach immer über das Reden, was uns bedrückt oder erfüllt?« Sein Freund nickte, er spürte, wie eine hoffnungsvolle Wärme den Platz seines Herzens einzunehmen schien. »Ja, okay. Wir reden beide, in jeder Situation, über unsere Gefühle, okay?«

»Habt ihr euch wieder vertragen?« Jules klang ungehalten, schlug die Wohnungstür hinter sich zu und starrte die beiden an, die nur dümmlich zurückstarren konnten. »Äh ... offensichtlich.« Liam und Enrico grinsten sich an, der Jüngere lehnte den Kopf auf seine Schulter und ließ ihn reden, während er lautlos lachte. Die ungehaltene Version von Jules war irgendwie witzig, wenn man bedachte, dass ihre Tonlage sich um eine Oktave veränderte und ihr Blick meistens zu sehr zum Niederbrennen gedacht war. Und auch wenn Jules das wusste, scherte sie sich nicht darum.

»Ihr seid echt komisch, muss man euch schon lassen.« Während Jules ihre Schuhe ausgezogen hatte, hatte sie sich über dieses und jenes beschwert, selbst über ihre verdammte Therapeutin. Doch man durfte ihre Worte nicht zu ernst nehmen, an Tagen wie diesen, da sie manchmal einfach nur ihren Frust rauslassen wollte und keine andere Möglichkeit darin sah, als Worte an die Dinge oder Personen zu richten, die ihr nichts getan hatten. Und das war okay, jeder von ihnen hatte Frust, jeder von ihnen musste lernen, damit auf einem gesunden Weg klarzukommen. Solange sie diesen Weg nicht aufgaben, immer weiter machten und sich nicht unterkriegen ließen, war es okay. Und auch das Ausprobieren neuer Ventile war okay, solange man nicht in alte Verhaltensmuster zurückfiel.

Vielleicht funktionierte deswegen ihre WG so gut; sie versuchten, Toleranz gegenüber allem möglichen zu zeigen, versuchten, mit allem klarzukommen. Und egal wie verrückt sie hier drinnen manchmal zu sein schienen, sie funktionierten noch immer miteinander. Ja, es hatte Krisen gegeben, ja, eine Zeit lang hatten sie alle irgendwie mit sich selbst zu kämpfen gehabt, doch im Endeffekt zogen sie sich gegenseitig aus ihren Krisen und Problemen, halfen sich gegenseitig hoch, nachdem sie niedergeschlagen wurden. Vielleicht funktionierte das Leben hier deshalb, ging immer voran, egal ob nach unten, nach oben, nach vorn oder zurück. Sie zogen sich alle gegenseitig mit, immer weiter und weiter, in dem Versuch, dem Abgrund zu entkommen. Nur leider war der riesig genug, um sie alle verschlingen zu können.

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Tut mir leid, dass die Updates dieser Story momentan noch unregelmäßiger kommen als erwartet, ich versuche mich zu bessern😅
Natürlich hoffe ich trotzdem, dass es nicht so rüberkommt, als würde ich die Kapitel unnötig in die Länge ziehen, und ich hoffe, dass sie auf Gefallen stoßen. Danke fürs Lesen, und vielleicht ja sogar Kommentieren und Voten<33

Lost Souls | boy×boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt