Enrico:
Liam war meistens aus dem Haus, bevor er überhaupt richtig wach war. Das war normal, nichts besonderes, doch er verabschiedete sich meistens mindestens, wenn er das Haus verließ. Doch nicht heute. Heute fand Enrico sich in einem leeren, kühlen Bett wieder, ohne die Erinnerung daran, dass Liam ihn geweckt und ihm gesagt hatte, dass er nun weg wäre. Das war merkwürdig, doch an sich nicht wirklich etwas, was ihn nun sonderlich besorgen sollte oder ähnliches. Schließlich hatte Liam ihm mal erzählt, dass er es nicht mochte, ihn zu wecken, wenn er friedlich schlief. Vielleicht war das einfach nur der Grund gewesen, und er hatte keine Absichten dahinter gehabt?
Enrico stand auf, sah auf sein Handy, doch Liam hatte ihm auch keine Nachricht geschrieben. Das war noch komischer, doch ebenfalls nicht wirklich besorgniserregend, da er ein Gehirn wie ein Sieb hatte. Er war halt vergesslich. Das war bestimmt alles, richtig? Doch Enrico konnte nicht verhindern, dass er sich Sorgen machte. Sein Freund war nicht gesund, sein Freund hatte einiges hinter sich, und er wollte ihm nicht unterstellen, dass man ihm nicht vertrauen könnte, doch in manchen Situationen, da konnte er es wirklich nicht.
Trotz der Sorge, begann er seinen Tag wie immer. Kaffee trinken, sich auf das Sofa setzen, vor sich hin vegetieren, bevor er sich aufrappeln und richtig fertigmachen konnte. Doch irgendwas fühlte sich heute anders an. Vielleicht war es das Wetter, welches heute mal nicht warm, sondern kalt und windig war. Oder es war die Tatsache, dass er sich noch immer nicht daran gewöhnen konnte, nicht zu arbeiten. Ja, vielleicht müsste er nur weiter nach Jobangeboten suchen. Enrico versuchte wirklich, einen Grund dafür zu finden, dass er sich so merkwürdig, so unwohl und nervös fühlte. Er versuchte wirklich, sich abzulenken davon, seinen Tag wie immer zu gestalten und nichts an sich rankommen zu lassen, als ob das Gefühl dann einfach für immer gehen würde. Denn insgeheim hoffte er darauf wirklich.
Also setzte er sich mit seinem Laptop auf dem Schoß auf das Sofa, das Handy legte er neben sich, immer bereit, eine eingehende Nachricht sofort zu sehen. Doch das konzentrierte Suchen nach Jobs, stellte sich heute als schwieriger als normalerweise heraus. Seine Aufmerksamkeit war nicht voll und ganz auf die Seiten gerichtet, die er öffnete und schloss. Immer wieder sah er zu seinem Handy, doch das Display blieb schwarz, der Nachrichtenton aus und das kleine Licht, welches immer blinkte, genauso. Es gab kein Lebenszeichen von Liam, auch nicht, als er Mittagspause hatte.
›Alles okay, Liam? Kannst du ein Lebenszeichen von dir geben?‹
Es war Freitag, was im allgemeinen bedeutete, dass Timothy als erstes nach Hause kam und quasi wieder ging, wenn Liam die Wohnung betrat. Zwischen den beiden war ein fliegender Wechsel entstanden, den wir alle irgendwie lustig fanden. Deswegen wartete er. Erst auf Timothy, und als dieser da war, versuchte er nicht allzu deutlich zu machen, dass er absolut nicht auf ihn gewartet hatte. Denn mit Tim konnte und musste man sich arrangieren. Mit ihm konnte man reden und umgehen. Er war eben die Person, mit der man über alles sprechen konnte, egal was. Meistens musste man nichtmal die Reaktion erwarten, die bei allen anderen als angemässen betrachtet werden würde. Denn er verstand. Das tat er immer.
»Hat sich Liam denn immer noch nicht bei dir gemeldet?«, fragte Tim, während er irgendwas hinter dem Fernseher fummelte. Enrico sah auf sein Handy. »Nope. Keine Nachricht von William. Ich mach mir Sorgen, Timothy.« »Kann ich verstehen, würde ich mir auch machen. Als er sich das letzte Mal nicht gemeldet hat, da hat er getrunken-« »und hat sein Handy verloren.« Enrico seufzte, sah auf den Rücken seines Mitbewohners und bemerkte, dass er nicht mal wusste, was dieser da eigentlich machte. »Was machst du da überhaupt?« »Moment.« Er gab ihm den Moment, ein Kabel fiel auf den Fernsehschrank und ein anderes wurde hochgezogen. Dann zog Timothy das nicht mehr gebrauchte Kabel hervor und legte es auf den Boden neben sich. Wollte er ihnen die Möglichkeit nehmen, um Jules' Horrorfilme mitansehen zu müssen? Oder versuchen, ihn davon abzubringen, sich jeden Tag Nachrichten reinzuziehen, die absolut nichts neues waren?
»Jetzt sollten wir wieder besseres WLAN haben.« Enrico sah nicht nur zweifelnd, sondern auch verwirrt aus, Timothy grinste ihn an. »Wir haben nen neuen Router bekommen, weil der alte Schrott war, aber den konnten wir irgendwie nie so gut verbinden.« Er war immer noch nicht überzeugt. »Aha. Wenn das WLAN jetzt nicht besser ist und der Fernseher abstürzt, dann ist das deine Schuld, Tim.« Er sagte das nicht vorwurfsvoll, eher theatralisch und neckend. Denn wenn er in seiner langen Zeit hier eine Sache neu gelernt hatte, dann war es, dass alle für alles verantwortlich waren, sie sich keine Schuld für nichts zuschrieben und alle zusammen Reparaturen und sonstiges erledigen mussten. Sie waren eine eingespielte Gruppe, wussten, wie sie miteinander und mit anderen umgehen mussten. Und manchmal, da wussten sie es eben auch mal nicht.
»Ist es ... okay, wenn ich 'n bisschen wütend auf ihn bin?«, fragte Enrico schließlich, wobei er beim Reden so demonstrativ auf seine Finger schaute, als ob er gleich abstreiten wollen würde, dass er gefragt hatte. »Was? Wen? Achso. Ähm ... ich denke mal ... ja. Ein bisschen schon. Aber versuch vielleicht lieber erstmal zu klären, wieso er sich nicht gemeldet hat.« Dann sah er hoch. »Und was ist, wenn er getrunken hat?« Timothy sah sich nahezu hilflos im Raum um. Sie wussten beide, dass er einfach nur überfordert mit der Situation und seiner Sorge war, weshalb er sich zu viele Gedanken über seinen Freund machte. »Dann versuchst du, ihn ins Bett zu bewegen, stellst ihm nen Eimer hin und schreibst mir. Du sagst Jules nichts oder nur ohne Details etwas davon und legst dich später, wenn du selbst ins Bett gehst, zu ihm wie du es immer tust.« »Woher weißt du, dass ich mich immer zu ihm lege?« Timothy grinste. »Schätzung.«
Irgendwas an der Tatsache, dass sie seine momentanen Horrorszenarien abgefrühstückt hatten, tat gut. Es hatte etwas Beruhigendes, zu wissen, was er in welcher Situation tun sollte. Denn manchmal schien er zu unterschätzen, was in seinem Freund vor sich ging. Manchmal schien er zu unterschätzen, dass dieser immer noch nicht der gesündeste Mensch auf der Welt war und definitiv nicht frei von Suchten. Doch er wollte ihm helfen, wollte mit ihm dadurch gehen, also versuchte er, Liam's Stärke und Durchhaltungsvermögen nicht offensichtlich in Frage zu stellen und immer da zu sein.
Als Timothy ging, schien Liam ihm auf der Treppe entgegen zu kommen, da Enrico einen Handschlag und ein paar gemurmelte Wörter wahrnahm. Ein paar Sekunden später öffnete sich die Wohnungstür, er betrat die Wohnung und schloss die Tür wieder. Enrico saß auf der Couch wie auf heißen Kohlen. Er war bereit, um aufzuspringen, zu seinem Freund zu gehen und ihn auszuquetschen, und doch versuchte er, Geduld zu haben. Liam schien heute alles ganz langsam, nahezu in Zeitlupe anzugehen. Heute schien er viel länger dafür zu brauchen, seine Schuhe und Jacke auszuziehen und wegzustellen. Heute schien er nochmal zu überlegen, ob er vielleicht doch nicht ins Wohnzimmer gehen sollte. Heute schien er stehen zu bleiben, wie als wäre er eingefroren, und sich in seinen Gedanken zu verfangen.
»Hi!« Liam kam ins Wohnzimmer, sah komplett nüchtern und doch komplett durch den Wind aus. »Hi.« Er mied Enrico's Blick. Und er sagte nichts. Stattdessen presste er seine Lippen fest aufeinander, drückte seine Handballen kurz auf seine Augen und ließ sich neben Enrico auf die Couch fallen. Zwischen ihnen wahrte er Abstand. Nicht nur physisch, sondern auch mit der Stille, die er aufrecht erhielt. Seine Augen lagen unfokussiert auf dem schwarzen Bildschirm, er schien einen dieser Tage zu haben, an denen er sich in seinen Gedanken verlor wie in einem Labyrinth. Dort war Chaos in ihm, welches ihn von der Welt abzutrennen schien. Zumindest vermutete Enrico dies.
»Es tut mir leid, dass ich den ganzen Tag nicht geantwortet habe«, murmelte Liam schließlich. »Ich hab mir Sorgen gemacht, Liam. Richtig große Sorgen. Hab mich gefragt, ob ich was falsch gemacht habe und immer wieder Nachrichten eingetippt, die ich wieder gelöscht habe. Das geht so nicht. Du kannst dich nicht einfach nicht melden. Ich hab Angst um dich, wenn du das tust.« Liam nickte verstehend, seine Finger gruben sich in den Stoff mit dem die Couch überzogen war. Enrico fühlte sich, als ob Liam lügen würde. Denn auch wenn er wusste, dass er dies nicht tat, war dort irgendwas Unausgesprochenes, irgendwas von einer gewissen Distanz zwischen ihnen und dem Verständnis voneinander. Doch Liam blieb still, bis Enrico seine Finger um die, die in den Stoff gebohrt waren, legte und sanft drückte. Er schluckte.
»Was ist los? Seit wann schreibst du nicht und schweigst, wenn du wiederkommst?« Liam sah ihn an, in seinen Augen war etwas, das er nicht deuten konnte. »Meine Mutter hat angerufen. Sie wurde entlassen und will mich besuchen.«
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Lost Souls | boy×boy
Teen FictionI'm a lost soul in a lost city. A lost soul in lost people. A lost soul with a beating heart. Do I have to continue? Er dachte, dass er ihn nie wieder sehen würde. Er dachte, dass er seine Chance verspielt hatte, dass ihre Wege sich nie wieder kre...