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William:

»Also ich bin dafür, dass wir einen Horrorfilm gucken. Das reinigt den Kopf und dann sind wir alle wieder alltagstauglich.« Jules wedelte demonstrativ mit Blutgericht in Texas in der Luft herum. Es war kein Geheimnis, dass sie für die schlimmsten Horrorfilme ihre Nieren verkaufen würde. »Ich hasse Horrorfilme.« Jedoch schien Enricos Klarstellung sie nicht umzustimmen. Es war Sonntagabend und Liam hatte keine Ahnung, wie jetzt alle darauf kamen, einen Film gucken zu wollen. Von einem Gespräch über Barkeeper, die mit all ihren Kunden soweit zurecht kommen mussten, waren sie nun zu diesem Punkt gelangt.

»Also ich bin eher für so nen Krimi oder sowas«, äußerte schließlich Timothy. »Und was willst du gucken? Tatort oder was bitte?« Belustigt sah er Jules an, die mal wieder ihren Psycho-Film mehr verteidigte, als irgendwas anderes auf der Welt. »Also ich bin auch für etwas weniger blutrünstiges.« Enricos Meinung wurde noch immer ignoriert, da er offensichtlich nicht der größte Fan von Horror war. »Okay, cool. Dadurch, dass eure Meinungen nicht zählen und William sich nicht wirklich dazu äußert, gucken wir Blutgericht in Texas. Außerdem solltest du doch kein Problem mit Blut haben, Enrico.« Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, sagte jedoch nichts mehr und sie alle platzierten sich eng aneinander gedrückt auf der zu kleinen Couch. Beim Kauf dieses Möbelstücks hatten sie anscheinend nicht damit gerechnet, dass sie irgendwann mal die WG komplett voll haben und sich zu viert auf das Sofa zum Filmeabend quetschen würden.

Liam saß in der Ecke, hatte seine Beine zu sich auf die Sitzfläche gezogen und lehnte sie leicht an die Armlehne. Neben ihm saß Enrico, dieser hatte die Beine von sich gestreckt und die Arme vor der Brust verschränkt, während er auf den Bildschirm starrte. Daneben saß nun wiederum Timothy, der den Fuß unter seinen Oberschenkel geklemmt hatte und mehr oder weniger den Bildschirm mied. Und als letztes kam Jules, welche sich noch mit dazu auf die Couch quetschte und es sich freudig bequem zwischen der anderen Armlehne und Timothy eingequetscht machte. Nur weil sie die einzige Frau in unserer WG war, hieß dies noch lange nicht, dass sie weniger Meinungsrecht hatte. Generell hatte sie immer die besten Tipps und ihre Meinung zählte doppelt so viel wie die von uns restlichen drei zusammen. Und auch wenn das unfair erschien, waren wir meistens alle froh, wenn sie die Entscheidungen übernahm.

Der Film lief, während sich alle ein paar Mal erschreckten und Jules es sichtlich genoss, sich ihren Lieblingsfilm reinzuziehen. Okay, ihr Lieblingsfilm neben diesem einen, bei dem dieses ekelhaft nasse Mädchen mit den schwarzen Haaren vor dem Gesicht aus dem Fernseher krabbelt und alles umbringt, was sie umbringen mag. Er hatte den Namen dieses Films vergessen und war noch weniger ein Fan davon, da er ihn nach der ersten halben Stunde schon ekelhaft und grausam gefunden hatte. Jules Faszination für Horror war manchmal echt erschreckend, wenn man sie aus dem Alltag kannte. Dass der unschuldigste Mensch dieser Welt Horror über alles liebte, war eine überraschende Wendung seines Meinungsbildes gewesen.

Plötzlich erschraken sich alle, Enrico zog seine Beine hoch und rollte sich so zur Seite, dass er seinen Kopf hinter Liams Schulter verstecken konnte. Seine Arme schlossen sich um Liams, und belustigt sah er dabei zu, wie der nun an ihn Geklammerte hervorspinkste, um den Film weiter zu schauen, während er den neu gewonnen Arm nahezu ängstlich an sich drückte. Okay, es war ganz eindeutig, dass Enrico Horrorfilme nicht nur nicht mochte, sondern auch Angst vor ihnen hatte. William konnte nicht anders, als warm zu lächeln. Irgendwie war das süß, fand er. Es war irgendwie überraschend, zu sehen, dass jemand wie er Angst bei Horrorfilmen hatte.

»Soll ich auch noch deine Hand halten, damit du weniger Angst hast«, fragte William belustigt, Enrico sah ihn schnaubend an, erwiderte jedoch nichts und ließ zu, dass Liams Finger sich in seinen verschränkten. Niemand sonst schien dies mitzubekommen, nur sie beiden sahen sich an, spürten, wie ihre Hände sich wärmend und nahezu schützend aneinander drückten. Es fühlte sich wie ein Geheimnis an, welches nur sie beiden teilten. Ein Geheimnis, welches nicht dort sein sollte. Denn irgendwas stand zwischen ihnen. Vielleicht wusste Enrico, was genau es war, doch Liam wusste es nicht. Er hatte keine Ahnung, was es sein könnte. Und obwohl es für den Moment egal war, konnte er nicht aufhören, darüber nachzudenken. Sie verloren den Blickkontakt, sahen wieder auf den Bildschirm und ließen ihre Hände zwischen sie fallen. Es war ein Geheimnis, welches noch nicht bereit dazu war, geteilt zu werden. Und was auch immer das zwischen ihnen momentan war, es fühlte sich irgendwie auf eine sonderbare Art und Weise nicht mehr nach einer Freundschaft an.

Wie lange war er jetzt da? Ne Woche? Etwas mehr? Wie konnte es jetzt schon aus dem Ruder laufen? Wie konnte es sein, dass er jetzt schon all seine Vorsätze über Bord zu schmeißen drohte? Sie müssten reden, dringend. Er könnte nicht so weiter machen, das war ihm klar. Es würde seine sich langsam wieder aufbauende Psyche nur erneut in den Untergrund treiben. Um ehrlich zu sein hatte er keine Ahnung, ob er das hier wollte oder nicht. Einerseits nämlich definitiv und ohne Frage, andererseits überdeckten die Schatten seiner Sorgen und Gegenargumente jedoch die guten Seiten. Somit befand er sich in einem problematischen und nahezu verletzlichen Zwiespalt, an einem Punkt, den er nicht gerne erleben wollte.

Alleine in seiner Vorstellung tat es irgendwie weh zu wissen, dass er sich wieder von Enrico trennen müsste. Enrico, dieser Junge, der sein Leben immer und immer wieder erneut gerettet hatte. Enrico, welcher ihn jedes Mal aufgefangen hatte, bevor er mit voller Wucht auf dem Boden aufgekommen war, und ihn schließlich doch dort unten am Grund liegen gelassen hatte. Er hatte ihn zusammengebastelt und dann wieder zerstört, schien mit ihm gespielt zu haben wie mit einer Marionette, nur um sich einzureden, dass dort niemals mehr als Freundschaft sein würde. Und doch hatte dieser verdammte Kuss von damals alles geändert. William dachte immer, dass der Kuss mit einer geliebten Person der Anfang von etwas Großem werden würde, doch er wurde eines Besseren belehrt und kehrte auf den Boden der Tatsachen zurück, bevor er ihn weggestoßen hatte. Und doch hatte er nun keine Ahnung mehr, wieso er dies getan hatte und wieso dieser verdammte Boden der Tatsachen sich für ihn richtiger angefühlt hatte, als das große Etwas, auf das er so lange hingefiebert hatte.

Vielleicht war es auch die Angst, die ihn zurückhielt. Oder sein Verstand? Jedenfalls war es irgendwas Packendes, was ihn mit scheinbar kalten Händen zurück in die Dunkelheit zog und seine Stimme nicht freigab. Etwas, was ihn belastete und gleichzeitig befreite. Etwas, was ihm die Entscheidung abnahm. Und normalerweise wäre er für sowas dankbar, doch nicht in diesem Fall. Es führte kein Weg daran vorbei, miteinander zu reden. Denn ihre Wege steuerten geradewegs aufeinander zu und schienen erst danach wieder ihre gewohnte Richtung einzunehmen. Und selbst wenn sie hart gegeneinander prallen würden, würde er wenigstens wissen, dass er es versucht hatte. Ich würde meine Mutter vom Gegenteil überzeugen, kam ihm plötzlich in den Sinn. Ihre Vorwürfe zerstören und sie in Gedanken eines Besseren belehren, das würde er. Und das machte ihm noch etwas mehr Mut, wenigstens diesen Schritt vorwärts zu gehen. Es war quasi seine Pflicht, zu reden und aufzuklären.

Lost Souls | boy×boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt