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William:


Timothy erzählte Jules das, was er selbst nicht nochmal über die Lippen bringen konnte. Inzwischen rieten sie beide ihm, dass er damit zur Polizei gehen sollte, anstatt die Geschehnisse dieser Nacht einfach weg zu schweigen, doch er schüttelte daraufhin jedes Mal nur den Kopf. Wenn er zur Polizei gehen würde, könnte sich sein Leben noch mehr verdrehen. Er wollte nicht, wenn der Mann gefasst und vor Gericht gebracht werden würde, eine Zeugenaussage nach der anderen machen müssen. Beides fühlte sich falsch an - totschweigen und zur Polizei gehen. Es half nichts. Die Situation überforderte ihn, er konnte nicht mal selbst damit umgehen. Es fühlte sich so unreal an, das erlebt zu haben, fand er. Und doch holten ihn die Erinnerungen immer wieder ein. Es war nicht unreal - es war wirklich geschehen.

Die drei Wochen neigten sich langsam aber sicher zum Ende hin, wie ihm aufgefallen war. Es hatte nichts so wirklich verändert - mal davon abgesehen, dass er aufgestanden war und seine Haare wusch. Doch er fühlte sich nicht fähig zu arbeiten. Denn dann müsste er laufen. Und wenn er zur Arbeit laufen müsste, dann würde er nicht mal den halben Weg schaffen. Er müsste alleine laufen. Alleine in der Dunkelheit. Diese Dunkelheit, die ihm davor so empfänglich vorgekommen war. Diese Dunkelheit, die niemals kühler hätte sein können. Diese Dunkelheit, die an seinem Geburtstag plötzlich wieder zur Bedrohung wurde.

»Fünf Tage, Liam. Mehr Zeit hast du nicht, um dich zu entscheiden.« Er sah Tim an, dann nickte er. Nein, dankbare Worte konnten immer noch nicht über seine Lippen kommen. Seine Dankbarkeit blieb ihm einfach im Hals stecken. Jules sah von ihrem Laptop hoch, durchlöcherte ihn mit ihrem halbleeren Blick und legte den Kopf schief. »Du siehst so aus, als ob du Enrico brauchen würdest.« William nickte leicht. Er dachte an Enrico. Enrico und seine warmen Berührungen, die nun mit denen des fremden Mannes verschwommen. Enrico und seine sanften Worte, die sanften Küsse, die nun mit dem hektischen kalten Atem des Types von der Straße verschmolzen. Er konnte diese Wörter, die das, was ihm widerfahren war, nicht aussprechen. Er wollte an dieses Wort nicht denken, welches überall bekannt war. Denn dann würden die Erinnerungen vielleicht noch klarer werden.

Jules drehte ihren Laptop um, so dass Liam einen Blick darauf werfen konnte, und er erstarrte. Dort war Enrico, lächelnd und in einem grünen Shirt. Seine Haare waren durcheinander, so wie immer, doch sein Lächeln und das glänzen in seinen Augen war aufrichtig. »Hi, na?«, begrüßte sein Freund ihn und William brachte ein ganz leichtes, schwaches Lächeln zustande. Ein warmes Kribbeln breitete sich in seinem Herzen aus, er warf Jules einen fragenden Blick zu. Sie erlaubte ihm, mit dem Laptop in sein Zimmer zu gehen, also tat er genau das. Enrico, schwirrte es durch seine Gedanken, er sah ihn an.

»Hi« Sie lächelten beide. Enrico's Augen strahlten so wunderschön, er sah so aus, als ob er die Hand nach Liam ausstrecken wollte, doch dann senkte er sie wieder. »Warum weinst du, William? Ist irgendwas vorgefallen?« Angesprochener hatte gar nicht bemerkt, dass ihm Tränen die Wangen hinunterliefen. Er wischte sie weg, lächelte durch sie hindurch und wünschte, er könnte sich nun in die Arme seines Freundes legen, seine zarten Berührungen auf seiner Haut genießen und vergessen, dass ihn jemand weniger zart angefasst hatte. »Ich vermisse dich, das ist alles.« Enrico grinste noch etwas breiter, nickte leicht und fuhr sich durch die Haare. »Ich vermisse dich auch. Und ich wünschte, ich könnte dir sagen, wann ich zurückkann, doch das kann ich leider nicht. Spätestens im November sollte ich wieder da sein.« »November? Das ist ein halbes Jahr.« »Nope, viereinhalb Monate. Hast du etwa die Zeit aus den Augen verloren?« Die Frage hatte Enrico so spielerisch formuliert, dass William leicht zu grinsen begann. »Anscheinend.«

»Übrigens gab es nen Grund für meinen Anruf.« William bekam Angst. Hatte irgendjemand ihm was gesagt? Wollte Enrico vielleicht noch mit den anderen sprechen und fand es nicht gut, dass er ihn nun so für sich beansprucht hatte? »Und der wäre?« Enrico grinste noch breiter, nahm ein Feuerzeug und eine Kerze heraus, zündete die Kerze an und steckte sie in einen kleinen, sehr merkwürdigen Muffin. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag nachträglich. Ich weiß, kommt drei Wochen zu spät, doch ich hab's nicht früher geschafft. Sogar dein Geschenk habe ich hier, aber das kriegst du wohl erst - deinen Berechnungen nach - in 'nem halben Jahr.« William grinste, versuchte, die kurzen Augenblicke der Erinnerungen beiseite zu schieben und wünschte sich noch mehr, nun bei dem jungen Mann auf der anderen Seite des Bildschirmes sein zu können.

»Seit wann kannst du backen?«, fragte William schließlich, nachdem er sich bedankt und die beiden Männer sich imaginär umarmt hatten, was sie beide leicht zum Lachen gebracht hatte. »Kann ich nicht, deswegen sieht der ja so verkackt aus. Eine meiner Kolleginnen, Mailin, hat mir geholfen, nur den hier hab ich ganz alleine gemacht und ich dachte mir, dass es ansonsten noch unpersönlicher werden würde.« Während er redete sah Enrico den Muffin prüfend von allen Seiten an, als ob er sichergehen müsste, dass dieser von allen Seiten gleich schief und merkwürdig aussah. »Das ist so süß, Rico.« Dieser grinste nur noch mehr. »Ich hab mir ja auch Mühe gegeben. Und dabei hab ich mich gefragt, wie man Geduld für Dinge wie backen und kochen haben kann.« »Also theoretisch gesehen könntest du die Frage direkt an mich weitergeben.« »Ehrlich gemeinte Frage: was kannst du nicht?« »Oh, da gibt's vieles. Ich kann nicht ohne Tabletten auskommen, ich kann keinen Smalltalk führen, ich kann nicht auf Feste oder volle Partys gehen - muss ich weiter machen?« Enrico grinste und schüttelte den Kopf. »Ich lieb dich trotzdem, auch ohne Smalltalk und mit Tabletten.« William grinste nur, fühlte doch wieder, was Enrico von anderen Menschen unterschied und warum er mit diesem Mann immer so glücklich war.

Enrico war die gute Seite des Lebens. Enrico war Glück, Liebe, Freude, Lachen, Sein, Schreien, Vermissen, Herumalbern - die Liste war quasi endlos. Enrico war all das, was er in keiner zweiten Person finden würde. Enrico war das Glück in einer Person gefangen, zusammen mit so vielen positiven Eigenschaften, die er durch seine eigenen negativen manchmal auszugleichen schien. Und trotz der Tatsache, dass er verständnisvoll, liebenswert, süß, hilfsbereit war, wollte er ihm nichts von diesem Geschehnis erzählen. Er wollte nicht aussprechen, was er durchlebt hatte. Es fühlte sich an, wie ein Betrug. Ein Betrug der angenehmsten Beziehung, die man führen konnte, auch wenn es dies nicht war. Doch das Gefühl könnte er durch Tatsachen nicht verdrängen - eine Erfahrung, die er schon häufiger im Leben hatte machen müssen.

Reden tat ihm gut. Sie redeten über Belangloses, über Dinge, die man kaum erwähnen musste. Doch sie lachten, und redeten, als ob es das normalste der Welt wäre, über Dinge wie die Unterschiede zwischen Mehlsorten zu lachen und spielerisch zu diskutieren. Enrico tat ihm gut, so wie immer. Und er war froh, dass er nun mit ihm reden konnte.

Lost Souls | boy×boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt