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William:

Timothy und er hatten sich abgesprochen; Timothy wollte, dass Liam etwas aß und sich kurz ausruhen würde, während er selbst zu Enrico gehen würde. »Versprich mir, dass du ihm nichts sagst«, versuchte Liam es, doch dieser sah ihn nur ernst an und nickte in die ungefähre Richtung der Cafeteria außerhalb des Krankenhauses. »Du weißt, dass ich dir ansehe, dass du das nicht mehr lange durchhältst, richtig?« Liam nickte leicht grinsend und hob andeutend die Finger in die Luft. »Ich stehe ungefähr so kurz ... vor 'nem Nervenzusammenbruch.« Auch wenn er versuchte, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken, sah man es nun noch deutlicher, was für Tim ganz eindeutig das Zeichen war, ihn wirklich wegzuschicken.

Also schlenderte er durch die Gänge des Krankenhauses, fand tatsächlich irgendwie den Ausgang wieder und sog die frische Luft tief in seine Lungen. Er hasste Krankenhäuser, seitdem er in einem aufgewacht war. Seitdem er in einem nicht mehr atmen konnte, hasste er sie. Für Timothy war es vermutlich auch nicht angenehm, dort zu sein, doch dieser konnte alles gut verstecken, was in ihm vor sich ging. Von allen seinen Freunden würde er behaupten, dass sie stark sind, dass sie jede Hürde im Leben überwinden würden und später ganz viele Geschichten erzählen konnten. Vor allem Enrico könnte Geschichten erzählen, von Kriegen und dem Tod.

Die Sonne schien, nachdem es die ganze Nacht durchgeschüttet hatte. Vermutlich war sie warm, da es schließlich fast Sommer war, doch sie schien ihn nicht zu erreichen. Irgendwas an oder in ihm ließ ihn nahezu immun gegen die Wärme sein. Alles war so kalt in den letzten Tagen - nicht nur um ihn herum, sondern auch in ihm. Er spürte die Sonne auf der Haut, sah kurz in den Himmel, welcher inzwischen wieder nahezu wolkenlos war, und doch wurde ihm nicht warm. In der Cafeteria gegenüber sah er Menschen in T-Shirts sitzen und lachen. Er sah sie, wie sie mit Freunden oder Verwandten oder eben Bekannten locker sprachen, sich entspannten und es scheinbar genossen. Er vermisste Zeiten, in denen er mit seinen Eltern noch in Restaurants und Cafés gegangen war. Zeiten, in denen sie noch alle so tun konnten, als ob sie eine gut funktionierende und kein bisschen gebrochene Familie wären. Zeiten, in denen sie noch ins Bild gepasst hatten.

Er sollte seinen Vater besuchen, kam ihm plötzlich in den Sinn. Das Problem war nur, dass dieser in eine andere Stadt gezogen war, nachdem sie alle komplett auseinandergebrochen waren. Und natürlich war seine Mutter in seiner Nähe geblieben. Seine Mutter, die er nicht mehr brauchte, da sie diesen einen Job den sie in der Erziehung hatte, komplett verkackt hatte. Manchmal fühlte es sich scheiße an, zu wissen, dass er niemals normal über sie denken könnte, oder gar mit ihr über die Straße laufen würde, weil sie es kaputt gemacht hatte. Sie hatte ihn kaputt gemacht.

Nachdem er für sich entschieden hatte, dass ihm zu viele Menschen in dieser Cafeteria waren, beschloss er, dass er zum Supermarkt zwei Häuser weiter gehen könnte. Die meisten Supermärkte hatten schließlich eine Backwarenabteilung, also könnte er sich auch dort etwas zum Essen holen. Er ging über die Straße - tatsächlich mit gucken, da ihm das Krankenhaus zu nah war - und ging an den lachenden, redenden und essenden Personen vorbei. Er fühlte sich merkwürdig, irgendwie unwohl, während er das tat. Doch eigentlich fühlte er sich auch immer so, wenn er irgendwo alleine rumlief. Sogar auf den halbwegs leeren Krankenhausgängen hatte er sich gefühlt, als ob die Wände Augen hätten und nur ihn beobachten würden. Diese Paranoia war wirklich nervig geworden.

Der Laden war kaum besucht, bei den Backwaren stand eine Frau mit langen braunen Haaren, welche gerade ein Brot in die Schneidemaschine legte. Liam nahm sich eine Tüte, suchte sich eine Laugenstange mit Käse aus, sowie für Timothy eine Brezel. Jules hatte schließlich gesagt, dass sie sich selbst etwas zum Essen holen würde.

Rico hatte eine seltsame Obsession mit Smoothies, vor allem mit denen, die extrem ekelhaft aussahen. Und als Liam nun Smoothies sah, musste er daran denken und holte ihm denjenigen, den er bisher am liebsten gemocht hatte. Nachdem er sich dazu entschieden hatte, dass es das gewesen sein musste, ging er zur Kasse, zählte sein Geld ab, bezahlte, bekam Rückgeld und floh nahezu aus dem Laden. Er hasste Einkaufen. Eigentlich hasste er nur die zwischenmenschliche Interaktion beim Einkaufen, sowie die Menschen um ihn herum, doch es gab schließlich keine Einkäufe ohne beides.

Sein Hoodie hatte eine ziemlich große Bauchtasche, weshalb es kein Problem war, den Smoothie dort hinein zu tun. Er blieb draußen vor dem Gebäude stehen, lehnte sich an die Mauer neben dem Eingang und biss von der Laugenstange ab. Sie schmeckte trocken, doch etwas anderes hatte er auch nicht wirklich erwartet. Trotzdem hörte er nach drei Bissen schon wieder auf zu essen, genoss es einfach nur noch, draußen zu stehen und kurz Ruhe zu haben - zumindest von anderen Menschen. In seinem Kopf schrien die Gedanken, rannten um die Wette, machten ihn nahezu wahnsinnig. Sein Kopf dachte immer. Er dachte immer zu viel, immer zu laut, immer weiter, ohne Halt zu finden. Zumindest nahezu immer, denn wenn er nicht alleine war, wenn er abgelenkt wurde, wenn er bei Enrico war, oder bei seinen Freunden, dann war sein Kopf stiller. Dann übernahm sein Herz die Aufgabe, laut zu sein, schlug schnell gegen seine Rippen und manchmal hörte er das Blut in seinen Ohren rauschen. Und erst wenn sein Kopf wieder still wurde bemerkte er die ganzen Hintergrundgeräusche, die er nie wirklich wahrnahm.

Er kam wieder bei Timothy an, hielt ihm entgegen, was er gekauft hatte, und sein bester Freund nahm die Tüte dankend an. »Du musst mehr essen, Liam. Es geht nicht, dass du dich von einer Mahlzeit und ein paar Snacks ernährst.« Liam setzte sich neben ihn, nickte nur und sah auf die Tür, hinter der Enrico in einem der Betten lag. »Seine Eltern sind da«, hatte Timothy ihm zugeflüstert, als er bei ihm angekommen war. Und wenn seine Eltern da waren, dann wollte er nicht stören. Er wollte nichts kaputt machen - nicht die Beziehung zwischen den Dreien und nicht sich selbst am Anblick der Familie. Manchmal fragte er sich, ob irgendjemand aus seiner Familie ihn besuchen würde, wenn er wieder ein Notfall werden würde. Wenn er hier liegen würde, wäre er dann alleine?

»Hey, alles gut?« Tim stupste ihn an, Liam nickte nur mit müdem Blick und legte seinen Kopf auf die Schulter neben ihm. Er war müde, so unglaublich müde. Die Müdigkeit der letzten Tage und Wochen zog sich noch immer durch jede Faser seines Körpers. Manchmal fühlte er sich wieder zurück am Anfang. Am Anfang vom wieder hochkommen, am Anfang vom Kämpfen. Doch alles in ihm schien ermüdet und unglaublich schwer zu sein, alles fiel ihm schwer, bereitete ihm inneren Schmerz, der kein richtiger Schmerz war. Er konnte nicht kämpfen, nicht dieses Mal. Denn irgendwas in ihm fühlte sich so an, als ob er alle Kämpfe offiziell verloren hatte, sobald er sie beendet hatte. Irgendwas drückte sich von innen heraus auf seine Brust, wollte ihn zu Boden bringen und nicht mehr aufstehen lassen. Und dieses Etwas war so stark, dass es das immer wieder schaffte.

Er konnte nicht aufstehen, konnte nicht atmen, konnte nicht leben. Er konnte nicht sein wie er sein wollte. Er konnte nichts, er war ein Nichts. Und auch wenn die Gedanken stiller wurden, sobald er seine Medikamente intuss hatte, ging die Schwere in seiner Brust und auf seinen Schultern nie weg, schien sich nie ganz aufzulösen. Es gab Momente in denen er sich frei fühlte, in denen dort nichts war, was ihn fertig machte. Doch immer, wenn diese Momente oder Tage vorbei waren, kam alles zurück, nur doppelt so schwer. Als ob jemand in einen Sack immer mehr Steine füllen würde, wenn er eine gute Zeit gehabt hatte, und keiner sah, bemerkte und glaubte ihm, dass der Sack immer schwerer wurde. Vielleicht konnte man das Gefühl ja so beschreiben.


Lost Souls | boy×boyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt