Kapitel 3

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Die junge Schauspielstudentin hatte sich auf dem Weg dahin schon ihre Rolle überlegt, die sie dem Mann vorspielen wollte, um mit ihm ins Gespräch zu kommen. Jetzt war mal wieder ihr Talent gefragt und daher konzentrierte sie sich, bevor sie an die Haustür schritt. Sie nahm die Sache sehr ernst, als ob sie wirklich auf einer Theaterbühne oder vor der Kamera stand, damit sie überzeugend wirkte. Als sie bereit war, klingelte sie.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis jemand wirsch die Tür öffnete.

»Ja bitte?«, fragte ein Mann mit zerzausten Haaren, Dreitagebart und tiefen Augenringen. Das musste Herr Jahn sein. Er trug einen grauen Jogginganzug, auf dem allerhand verschiedene Flecken zu sehen waren. Alea wollte sich gar nicht ausmalen, woher diese Flecken stammten.

»Einen schönen guten Tag«, begann sie, doch sie wurde sofort unterbrochen.

»Ich kaufe nichts«, sprach er und wollte die Tür wieder schließen.

»Nein, ich verkaufe nichts«, rief die Rothaarige schnell. »Ich bin Journalistin und schreibe für einen Internetblog über alleinerziehende Väter.«

Herr Jahn stutzte und hielt in der Bewegung inne. Neugierig schaute er sie an. »Wie bitte?«

»Mein Name ist Alea Stern und ich möchte Sie gerne interviewen. Hätten Sie ein paar Minuten Zeit?«

»Kein Interesse«, entgegnete er nun wieder mit ernster Miene und machte erneut Anstalten, die Haustür zu schließen.

»Bitte...«, setzte Alea ein, doch da wurde ihr die Tür schon vor der Nase zugeknallt. »Mist!«, fluchte sie. Sie bewegte sich einige Schritte weg vom Haus und ärgerte sich über sich selbst. Ihrer Meinung nach hatte sie versagt, sonst hätte er anbeißen müssen. Sie fragte sich, warum er so forsch war und sie so schnell abblitzen ließ. Vielleicht hätte sie vorher telefonisch einen Termin mit ihm vereinbaren sollen, dann wäre er nicht so misstrauisch gewesen. Wer steht denn auch so unangekündigt vor der Tür und will ein Interview? Da konnte sie nur abgewimmelt werden.

Sie entschied sich, einmal ums Haus zu laufen und zu schauen, ob sie durch die Fenster etwas erfassen konnte. Doch leider waren überall blickdichte Vorhänge, sodass sie nichts sehen konnte. Hinter dem Haus war ein kleiner Garten, doch dieser war ebenfalls durch Hecken eingezäunt, die so wild wucherten, dass man kaum durchschauen konnte. Sie fand allerdings ein kleines Loch, wodurch sie ein Stück des ebenso verwilderten Gartens erkennen konnte. Ein Gartenstuhl lag umgekippt auf dem viel zu hohen Rasen. Sie entdeckte noch einen Rechen, der einfach so herumlag. Mehr erkannte sie nicht.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte plötzlich eine Frauenstimme hinter ihr.

Alea zuckte zusammen, weil sie sich erschrocken hatte. Mit hochrotem Kopf drehte sie sich ertappt herum. Eine ältere Dame, die wohl gerade mit ihrem Pekinesen Gassi ging, lächelte sie an.

»Äh guten Tag«, sprach die Studentin. »Mein Name ist Stern und ich bin die Lehrerin des Kindes von Herrn Jahn. Ich wollte ihm nur die Hausaufgaben vorbeibringen, doch niemand öffnet die Tür.« Eine bessere Ausrede fiel ihr so schnell nicht ein, aber im Grunde war Alea mit ihrer Improvisation zufrieden.

»Sie bringen Hausaufgaben für den Jungen vorbei?«, hakte die Dame nach. »Seit wann geht er denn zur Schule? Soviel ich weiß, kommt der Kleine niemals heraus. Herr Jahn sperrt ihn ein. Ganz furchtbare Sache... Wie oft habe ich das Jugendamt informiert, aber nichts passiert.«

Da war Alea wohl auf eine dieser Nachbarinnen gestoßen, die alles im Blick hatte und gerne tratschte. Das war perfekt.

»Ja ja«, stieg sie voll mit ein, »ich wurde vom Jugendamt geschickt, damit der Junge etwas lernt. Schulbildung ist wichtig.«

»Ach tatsächlich?«, fragte die Frau neugierig nach. »Wissen Sie denn, was mit dem Jungen wirklich ist? Ist er krank? Ich hatte ja schon mal vermutet, dass er eine Sonnenallergie oder so etwas hat. Das wäre zumindest besser, als die Vermutung, dass er von seinem Vater eingesperrt wird.«

»Es tut mir leid, aber aus Datenschutzgründen darf ich Ihnen da nichts Näheres erzählen. Aber Sie haben Herrn Jahn oder den Jungen heute noch nicht gesehen?«

»Ich habe den Jungen das letzte Mal gesehen, als er damals nach der Geburt nach Hause gebracht wurde. Das war ein schlimmer Tag, weil die liebe Frau Jahn ja leider dabei gestorben ist. Aber seither habe ich den Jungen nie mehr zu Gesicht bekommen. Herr Jahn hat sich auch total verändert und redet kein Wort mehr mit irgendjemanden. Er geht nur ganz selten raus und lässt sich sogar die Lebensmittel liefern. Er kann den Jungen wohl nicht alleine lassen.«

»Dafür ist ja das Jugendamt jetzt da, um zu unterstützen.«

»Wie schön. Grüßen Sie Herrn Jahn von mir, wenn Sie ihn sehen.«

»Selbstverständlich, ich richte es aus. Dankeschön!« Damit verabschiedete sich Alea freundlich und entfernte sich von der Frau. Sie war froh darüber, nun doch ein paar Informationen bekommen zu haben. Solche neugierigen Nachbarinnen waren Gold wert.

Sie lief ein paar Häuser weiter und bog in die nächste Straße ein. Dann dachte sie darüber nach, was sie gerade gehört hatte. Herr Jahn hatte also einen Sohn, dessen Mutter bei der Geburt gestorben war. Nun erzog Herr Jahn seinen Sohn ganz alleine, aber er ließ ihn nicht heraus. Irgendwas konnte da also nicht stimmen. Alea fragte sich, ob der Mann im Buch des Teufels unterschrieben hatte, um seine Frau zu retten. Dann wäre sie allerdings noch am Leben. Es musste also etwas anderes sein. Sie überlegte eine Weile und dann kam ihr eine dramatische Vermutung in den Kopf. Vielleicht war das Kind bei der Geburt krank und um dessen Leben zu retten, unterschrieb Herr Jahn in dem teuflischen Buch von Herrn Gruber. Mittlerweile wusste die Schauspielstudentin, dass Gesundheit nur durch ein Opfer wieder hergestellt werden konnte. Wenn sich also Herr Jahn Gesundheit für seinen Sohn gewünscht hatte, musste eventuell die Mutter darunter leiden und ihr Leben lassen. Wenn das wirklich wahr wäre, fand sie es entsetzlich. Aber es würde nicht erklären, warum Herr Jahn seinen Sohn jetzt einsperrte. Sie musste also an dem Fall dran bleiben.

Vielleicht haben Keno und Veit irgendwelche Ideen.


Mission Schicksal - 1.3 Rufe der VerzweiflungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt