Kapitel 18

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Während wir gemeinsam am Esstisch saßen und meine Mutter das Essen servierte, versuchte ich, mich auf die Gespräche zu konzentrieren, was überhaupt nicht leicht war, wenn man sich höchstens einmal im Jahr sah. Ich wusste nicht, was hier in Daegu im Moment los war, wusste nichts über den Tratsch, den meine Mutter immer mit unseren Nachbarn hielt und schon gar nichts über irgendwelche entfernten Freunde, die plötzlich geheiratet hatten oder sich haben scheiden lassen.

"Yoongi, erzähl uns doch, wie es in der Musikbranche läuft", bat mein Vater, der immer Interesse an meiner Karriere zeigte. Er machte sich oft Sorgen, dass ich die falsche Entscheidung getroffen hatte und mein erfolgreiches irgendwann von jetzt auf gleich vorbei sein würde.

"Es läuft wirklich super. Wir haben vor kurzem erst ein Konzert gehabt und arbeiten im Moment schon am nächsten Album", erzählte ich.

"Du arbeitest so hart, Yoongi. Aber denk auch an deine Gesundheit", mahnte meine Mutter und ihr Blick fiel auf meinen Teller, der nicht so gefüllt war wie die der anderen. Ihre Worte klangen fürsorglich, aber sie fühlten sich wie ein Urteil an.

"Ich passe auf mich auf, Eomma. Alles ist okay", versicherte ich ihr erneut mit einem aufmunternden Lächeln.

Meine Mutter nickte, schien jedoch nicht vollends überzeugt zu sein. Sie musterte mich kurz und ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufstellten.

"Ich habe noch etwas zu sagen. Ich wollte damit warten, bis wir alle wieder als Familie zusammen sitzen", räusperte sich Geumjae nun und sah uns alle kurz unsicher an. Eomma warf ihm ein aufforderndes Lächeln zu und er räusperte sich erneut. "Ihr wisst ja, dass Amber und ich vor etwa einem Jahr geheiratet haben... nun ja, ihr werdet in einigen Monaten Großeltern und Onkel." Zum Schluss hin wurde Geumjae immer leiser und lächelte am Ende unsicher.

"Das ist ja großartig!", jubelte meine Mutter und strahlte. "Ich werde Großmutter! Und du wirst Onkel, Yoongi!"

Ich zwang mich zu einem Lächeln, aber in meinem Herzen nagte der Gedanke, dass die Familie weiter wuchs, während ich selbst seit Jahren keine Beziehung mehr, geschweige denn Sex, hatte. Wie konnte ich überhaupt noch ein Teil dieser Familie sein, wenn ich nie hier war? Das Kind meines Bruders würde einen berühmten Onkel haben, das es nie sah. Ich wäre wie ein Fremder für es.

"Wisst ihr schon, ob es ein Mädchen oder ein Junge wird?", fragte meine Mutter aufgeregt.

Geumjae lächelte stolz. "Ein Junge."

"Wisst ihr schon, wie ihr ihn nennen werdet?" fragte mein Vater, der jetzt auch in das Gespräch eingestiegen war.

"Wir haben ein paar Namen in Betracht gezogen, aber wir sind uns noch nicht sicher", antwortete mein Bruder.

Die Diskussion über potenzielle Namen begann, während ich still dasaß und meine eigenen Gedanken nachhing. Ich würde wahrscheinlich viele seiner Geburtstage verpassen. Würde er mich für einen schlechten Onkel halten, wenn ich ihm seine Geschenke nur per Post schickte? Warum machte ich mir darüber überhaupt Gedanken?

Nach dem Essen zog ich mich in mein altes Kinderzimmer zurück. Der Raum war genauso spärlich eingerichtet wie an dem Tag, an dem ich ihn im Jahr 2010 das erste Mal für eine unbestimmte Zeit verlassen hatte.

Ich setzte mich auf das Bett und starrte aus dem Fenster hinab auf die ruhige Straße unter mir. Die Sonne war bereits untergegangen, und die Straßenlampen warfen sanfte Lichtkegel auf den asphaltierten Weg. Ein kühler Wind wehte durch das offene Fenster und bewegte die Gardinen leicht hin und her. Es war seltsam, in diesem Zimmer zu sitzen, das seit Jahren gleich geblieben ist, während sich alles andere in meinem Leben verändert hat.

Ein Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken. "Yoongi, bist du okay?" erklang die Stimme meiner Mutter.

"Ja, Eomma, alles in Ordnung", antwortete ich und versuchte, meine Stimme fest und sicher klingen zu lassen.

Die Tür öffnete sich langsam und meine Mutter trat ein. Sie setzte sich neben mich auf das Bett und legte eine Hand auf meine Schulter. "Du wirkst heute so abwesend, Yoongi. Außerdem sehe ich dir an, dass du abgenommen hast. Stimmt etwas nicht?"

Und dann brach ich zusammen. Angestaute Tränen flossen in Strömen meine Wangen hinab und ich vergrub meinen Kopf im Oberteil meiner Mutter, während immer wieder erstickte Schluchzer meinem Mund entflohen.

Meine Mutter schien nicht überrascht von meiner Reaktion. Sie legte liebevoll ihre Arme um mich und ließ mich weinen. In diesem Moment fühlte ich mich nicht wie der berühmte Rapper Suga, der auf der Bühne und in der Öffentlichkeit den Eindruck machte, dass er Menschen über alles hasste, sondern eher wie ein kleiner Junge namens Yoongi, der sich bei seiner Mutter ausweinte, weil seine Mitschüler ihn wegen seiner Beziehung mit einem Jungen fertig gemacht hatten.

"Es tut mir leid, Eomma", flüsterte ich zwischen den Schluchzern. "Ich weiß nicht, warum ich so geworden bin. Warum ich mich so fühle."

Sie strich mir beruhigend über den Rücken. "Es ist okay, Yoongi. Jeder hat seine eigenen Kämpfe und du musst nicht alles allein tragen. Wir sind hier für dich."

"Ich weiß nicht, wie es so weit kommen konnte", murmelte ich, als sich meine Schluchzer langsam legten. "Ich habe versucht, stark zu sein, aber es fühlt sich an, als ob alles außer Kontrolle gerät."

Meine Mutter löste die Umarmung und hielt mich auf Armeslänge, um mich anzusehen. "Stärke bedeutet nicht, alles allein zu tragen, Yoongi. Es bedeutet, um Hilfe zu bitten, wenn man sie braucht. Du bist nicht schwach, weil du deine Gefühle zeigst. Die Menschen sehen oft nur die Seite von Suga, den Rapper, aber vergessen dabei, dass dahinter ein Mensch namens Min Yoongi steckt. Jemand, der genauso mit Unsicherheiten und Ängsten kämpft wie jeder andere auch", sagte sie ruhig. "Es ist in Ordnung, Schwäche zu zeigen. Das macht dich nicht weniger stark, sondern menschlich."

Als meine Mutter schließlich aufstand, um mein Zimmer zu verlassen, drehte sich sich nochmal um. Sie richtete den Blick auf mich und sagte beiläufig: "Du weißt, dass hier immer genug Essen ist, oder? Du musst dich nicht zurückhalten."

Ich schluckte schwer und versuchte, ihre Worte gelassen aufzunehmen. "Ich hatte vorhin schon viel unterwegs. Bin immer noch satt."

Meine Mutter musterte mich kurz, als ob sie meine Antwort überprüfen wollte. "Du solltest darauf achten, ausreichend zu essen. Die Arbeit und der Stress dürfen nicht dazu führen, dass du deine Gesundheit vernachlässigst."

»𝐁𝐥𝐮𝐫𝐫𝐞𝐝« ˢᵒᵖᵉ ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt