Kapitel 26

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Die Waage schien mich anzustarren. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, als ich zitternd auf das Display blickte, das noch ausgeschaltet war.

Mit zitternden Fingern betätigte ich den Einschaltknopf und wartete, bis die Zahlen stabilisiert waren. Mein Herz raste in meiner Brust, als ich die Waage betrat und mich auf das unerbittliche Gerät stellte. Ein Moment der Stille folgte, in dem die Welt um mich herum den Atem anhielt.

Dann zeigte das Display das Ergebnis an: 49,7 Kilogramm.

Mir wurde schwindelig. Nachdem ich zwei Wochen lang nur von einer kleinen Mahlzeit täglich überlebt hatte, hatte Hoseok mir heute geholfen, drei, wenn auch kleine, Mahlzeiten zu mir zu nehmen. Und das war der Preis dafür. Ich wog 200 Gramm mehr als gestern Abend.

Ich stieg von der Waage hinab und sah mich im Spiegel an. Meine Beine sahen schon wieder dicker aus, genau wie meine Arme und mein Gesicht.

Ohne zu zögern griff ich nach dem Taschenmesser, das auf dem Waschbecken lag, und zog es über meine Haut. Ein brennender Schmerz durchzuckte mich, als ich die Klinge tief in mein Fleisch schnitt.

Das warme Blut tropfte auf das weiße Waschbecken und auf den Boden. Das Messer schnitt durch meine Haut wie durch Butter und unaufhörlich trat Blut aus den Wunden aus.

Ich konnte nicht aufhören. Man hörte entweder auf, wenn man zu weit gegangen war und so viel Blut aus der Wunde ausgetreten war, dass man bewusstlos wurde, oder wenn man von jemandem unterbrochen wurde.
In meinem Fall traf beides zu.

Die Badezimmertür wurde aufgerissen und Hoseok stürmte herein, ein entsetzter Ausdruck auf seinem Gesicht. "Yoongi, was machst du da?", schrie er, als er den Anblick meines blutüberströmten Körpers erfasste.

Die Realität kehrte mit erschreckender Klarheit zurück, als ich meine eigenen Taten sah. Ich ließ das Messer fallen  und der metallene Klang hallte durch den Raum. Ein Gefühl der Leere breitete sich in mir aus, als ich auf meine blutverschmierten Hände starrte, die stark zitterten.

"Scheiße! Verdammt, das- Nein!" Ich sah verschwommen, wie Hoseok panisch durch das Badezimmer eilte und etwas Kühles auf meine Stirn presste.

Mein Herz hämmerte wild in meiner Brust und der Schwindel drohte mich zu überwältigen, als ich versuchte, meinen Atem unter Kontrolle zu bringen.

"Hoseok...", flüsterte ich schwach, meine Stimme kaum mehr als ein Hauch.

"Shh, Yoonie, alles wird gut", antwortete Hoseok. "Wir müssen dich ins Krankenhaus bringen, okay? Du brauchst ärztliche Hilfe."

Dann hörte ich mehr Stimmen um mich herum und erkannte Seokjins Gesicht direkt vor mir. "H-hyung", hustete ich.

"Alles wird gut, Yoongi", versicherte Seokjin mit ernstem Blick. "Der Krankenwagen ist unterwegs."

Plötzlich spürte ich einen scharfen Schmerz auf meinem Arm, als jemand etwas darauf presste. Ein gedämpftes Wimmern entkam meinen Lippen. "D-das tut we-weh", murmelte ich, mein Gesicht vor Schmerz verzerrt.

"Sorgt dafür, dass er wach bleibt!", hörte ich Namjoons panische Stimme. Genervt stöhnte ich auf. Ich wollte nicht wach bleiben. Es war zu anstrengend.

"Ich brauche dich, Yoongi", flüsterte Hoseok, sein Atem warm an meinem Ohr.

"I-ich will sterben", murmelte ich. Für einen Moment war es ruhig und ich dachte, niemand hätte mich gehört, aber dann wurden alle panisch. Es war das erste Mal, dass ich es laut ausgesprochen hatte.

"Hyungie", hörte ich Jungkook, während jemand verzweifelt nach meiner Hand griff und sie fest drückte. Das war das Letzte, das ich spürte.

Als ich wieder aufwachte, fand ich mich in einer sterilen, weißen Umgebung wieder. Das kühle Licht der Krankenhauslampen blendete meine Augen, als ich versuchte, sie zu öffnen. Mein Körper fühlte sich schwer und fremd an, als ob er mir nicht mehr wirklich gehörte.

Plötzlich tauchte ein vertrautes Gesicht vor mir auf. "Yoongi-Hyung, du bist wieder wach!", sagte Jungkook mit einem erleichterten Lächeln.

Ich versuchte mich zu erinnern, wie ich hierhergekommen war und der Schmerz in meinem Arm gab mir einen Hinweis. Ich sollte nicht hier sein. Ich sollte nicht am Leben sein. Ich sollte tot sein.

"Hyungie, es tut mir so leid, dass du durch so etwas gehen musstest", sagte Jimin mit Tränen in den Augen. "Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht."

Die Erinnerungen kehrten in Bruchstücken zurück, wie bei einem Puzzle. Ich erinnerte mich daran, was im Badezimmer passiert war, nachdem ich enttäuscht über meine Gewichtszunahme war.

"Hoseok...", flüsterte ich, meine Stimme kaum mehr als ein Hauch. Ich suchte nach seinem vertrauten Gesicht.

"Ich bin hier, Yoonie", hörte ich Hoseoks Stimme und versuchte, mich aufzurichten, sodass ich meine Freunde anschauen konnte, doch ein furchtbarer Schmerz durchzuckte mich und zwang mich, mit einem schmerzerfüllten Zischen zurück ins Kissen zu sinken.

Die Tür öffnete sich leise, und ein Arzt trat ein, sein Gesicht ausdruckslos, als ob er alltägliche Tragödien gewohnt wäre. Sein Blick wanderte über die Monitoranzeigen und die medizinischen Geräte, bevor er sich auf mich konzentrierte.

"Min Yoongi, richtig?" fragte er ruhig, während er sich meine Akte ansah. Ich nickte mühsam. "Nun, Herr Min, Sie haben sich schwer verletzt. Die Schnittwunden, die wir behandeln konnten, sind zum Glück oberflächlich, aber Ihr Körper ist stark untergewichtig. Es ist offensichtlich, dass Sie an einer Essstörung leiden."

Ich traute mich nicht, zu meinen Freunden zu sehen. Natürlich hatten sie bemerkt, dass ich etwas weniger gegessen und vielleicht etwas Gewicht verloren hatte, aber bestimmt wussten sie nicht, dass es in Untergewicht und einer Essstörung geendet hatte. Immerhin war ich noch nicht dünn genug. Deswegen-

"Sind Sie noch bei uns, Herr Min?", riss mich der Arzt aus meinen Gedanken.

"Ich... ja", stammelte ich, meinen Blick gesenkt. "Entschuldigen Sie."

Der Arzt seufzte. "Keine Entschuldigung notwendig, Herr Min. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen. Nun, zu Ihren Verletzungen: Die Schnittwunden heilen gut, aber es ist wichtig, dass Sie sich auch um die tieferen Wunden in Ihrer Seele kümmern. Laut meinem Kollegen leiden sie an der Borderline-Persönlichkeitsstörung, kurz BPD, Herr Min", fuhr der Arzt fort. "Dies kann zu extremen emotionalen Höhen und Tiefen führen, was wiederum zu selbstverletzendem Verhalten führen kann. Wir empfehlen dringend eine psychiatrische Behandlung, um diese Zustände zu stabilisieren."

"Er war bereits in Therapie", warf Namjoon plötzlich ein. "Das war vor einigen Jahren, aber durch das stressige Leben als Idol sind die Termine immer wieder ausgefallen."

"Am besten nehmen Sie dann wieder Kontakt zu Ihrem Therapeuten auf", schlug der Arzt vor. Ich nickte nur und schloss dann meine Augen, zu erschöpft, um noch irgendein Gespräch zu führen.

»𝐁𝐥𝐮𝐫𝐫𝐞𝐝« ˢᵒᵖᵉ ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt