Als ich am nächsten Morgen aus unserem Haus trat, glitt mein Blick über die umliegenden Häuserwände. Die meisten Gebäude waren eng aneinandergepresst und erhoben sich wie Giganten aus Stahlbeton, Metall und Kunststoffglas an der menschenüberfüllten Straße. Jedes für sich in klaren Linien gehalten, waren das Einzige, was sie voneinander unterschied, die Höhe und die Form. Eine perfekte Darstellung der heutigen Grundsätze energie- und platzsparenden Wohnens. Prunklos aber doch irgendwie gut – weil in ihrer Bauweise Einsicht steckte. Wenigstens in punkto Umweltschutz wiederholten wir die Fehler der Vergangenheit nicht. Wir hatten dazugelernt. Dieser etwas beengende Anblick war die Konsequenz.
Ich wollte erst einmal tief durchatmen, aber da es in der Nacht geregnet hatte, füllte nur ein aufgeheizter stickiger Dunst meine Lungen. Missmutig warf ich einen Blick hoch zur getönten Glaskuppel und ging zur Haltestelle. Dort wartete ich auf das Elektroschulschiff. Es dauerte nicht lang, da kam es auch schon um die Ecke geglitten. Als ich einstieg, lief die Klimaanlage bereits auf Hochtouren. Endlich konnte ich einen befreienden Atemzug nehmen. Das Schiff war fast leer, zum Glück, denn morgens war mir wirklich nicht nach Small Talk zumute. Nur zwei weitere Schüler, die ich nicht kannte, teilten sich die Rückbank. Also ließ ich mich auf einem der vorderen Sitze nieder, stellte meine Tasche zwischen den Füßen ab und schaute aus dem Fenster.
Das Schiff vibrierte, als der Motor ansprang. Mit einem leisen Zischen schlossen sich die Türen. Obwohl die Luftstraßen vom Berufsverkehr verstopft waren, dauerte es keine Viertelstunde, bis wir die dreißig Kilometer entfernte Schule erreicht hatten.
Ich blickte auf den Stundenplan. Mathe bei Dr. Henke. Der perfekte Zeitpunkt, um mit meiner Freundin Lena über die Ereignisse der vergangenen drei Tage zu reden. Denn die hatte die Schule allen ehrenamtlichen Helfern freigegeben, damit wir uns in den Häusern eingewöhnen konnten. Und weil Lena in einem anderen Heim arbeitete, waren wir noch nicht dazu gekommen, uns auszutauschen.
Als ich den Gang zu den elften Klassen betrat, sah ich einen lila Pagenschnitt aus der Menge blitzen, der sich schnell und zielstrebig auf mich zu bewegte.
»Hi, Lena.«
»Mia, da bist du ja endlich.«
Zur Begrüßung gaben wir uns rechts und links einen dicken Kuss.
»Coole Haarfarbe«, sagte ich mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Gefällt's dir?« Lena grinste zufrieden. »Ich hab mal 'ne Veränderung gebraucht.«
Wir setzten uns in die letzte Reihe und zogen die Mathematikbücher hervor.
»Ich hab gestern Abend versucht, dich anzurufen. Aber deine Mutter hat gesagt, du bist noch arbeiten.« Lena hielt kurz inne. »Ich war echt überrascht, als die Kinder in unserem Haus ankamen. Die sehen uns ja so was von ähnlich.«
»Lena?« Dr. Henke warf ihr einen strengen Blick zu.
Wir gingen mit den Köpfen auseinander, zogen unsere Arbeitsblätter aus den Taschen und legten sie auf den Tisch. Als sich Dr. Henke wieder der Tafel zuwandte, stieß Lena mich jedoch mit dem Ellenbogen an.
»Nun erzähl schon. Wie war es auf Vulko?«, flüsterte sie. Und bevor ich antworten konnte, platzte sie schon mit der nächsten Frage heraus. »Wusstest du, dass die Loduuner in Clans zusammenleben, die ihre Eigenschaften beschreiben?«
Ich sah sie stutzig an. »Wie das?«
»Tanja hat es mir erzählt. Sie leben in einer Art Familienverband und die Mütter vererben ihre Eigenschaften an die Kinder weiter. Man soll ihre Clan-Zugehörigkeit an der Haut unterscheiden können. Wenn man ganz genau hinsieht, schimmert sie in einer bestimmten Farbe.«
»Die Kinder bei uns haben alle perlmuttfarbene Haut«, widersprach ich. »Da sticht keine Farbe hervor.«
»Mia, wie lautet die erste Ableitung von zwei X hoch vier minus X hoch minus zwei?«
Ahnungslos sah ich zu Dr. Henke auf. In diesem Moment wandte sich ein honigblonder Schopf leicht in meine Richtung. »Acht X hoch drei plus zwei X hoch minus drei«, drang es leise an mein Ohr. Ich wiederholte die Antwort laut, und Dr. Henke machte ein überraschtes Gesicht.
»Danke«, raunte ich Frank zu.
»Tanja hat gesagt, dass sich das wohl erst mit dem Alter herausbildet. Zunächst trägt jedes Kind alle Farben in sich«, flüsterte Lena.
Mit derartigen Neuigkeiten im Hinterkopf fiel es mir ungleich schwerer, mich auf den Matheunterricht zu konzentrieren. Dr. Henkes monotone Stimmlage wirkte auf mich ohnehin jedes Mal wie eine Schlaftablette. Heute musste ich mich ganz besonders anstrengen, seinen Ausführungen in den Themenbereichen der Analysis zu folgen. Aber es half nichts, meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Es gab noch so viel Unbekanntes, was diese loduunischen Kinder betraf. Was war richtig im Umgang mit ihnen? Und was falsch?
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Sternenschimmer von Kim Winter
Ciencia FicciónOb die Sterne wussten, dass diese Nacht Mias Leben verändern würde? Sie erleuchteten den ganzen Himmel, als Iason mit den anderen Flüchtlingen auf der Erde landete. Jetzt steht er vor ihr. Eine dunkle Stille geht von ihm aus, doch seine graublauen A...