Als ob er sich nicht sicher wäre, ob er hier richtig ist, betritt Wincent den Raum und sieht mich an. Meine Hände schwitzen und mein Gehirn ist plötzlich wie leergefegt. Ich bekomme das Bedürfnis, so schnell wie möglich von hier weg zu müssen, weshalb ich einfach nur sage: „Lass uns anfangen, dann haben wir es hinter uns." Wincent starrt mich weiterhin nur an. „Ist was? Wir müssen Videos drehen. Hast du den Tagesplan nicht gelesen?" Überrascht über mein eigenes schnippisches Verhalten fallen mir Steffs Worte von vorhin wieder ein. Rede mit ihm. Sag ihm, wie du dich fühlst.
„Lina." Ich sage nichts. „Nimm's mir nicht übel, aber ich hab gerade echt keine Lust, irgendwelche witzigen Videos zu drehen", höre ich Wincent sagen. „Auch gut, dann hab ich früher Feierabend. Wozu bist du dann überhaupt hier?" „Du weißt, warum." „Ehrlichgesagt nein, ich weiß es nicht. Ich weiß nämlich überhaupt garnichts, was gerade los ist. Und wenn du nur auf einen einzigen Anruf oder eine Nachricht von mir reagiert hättest, dann wüsstest du das." Du musst ihn auch verstehen, schießen mir wieder Steffs Worte durch den Kopf. „Bitte, hör mir zu", sagt Wincent mit flehendem Blick. „Sorry, ich wollte nicht so spöttisch zu dir sein. Ich bin nur echt verwirrt. Rede mit mir, Wincent."
Wir setzen uns mit genügend Sicherheitsabstand auf die Couch und als ich ihn so ansehe, bemerke ich erst, wie tief und dunkel seine Augenringe wirklich sind. Er beginnt unsicher zu erzählen. Kurz vor Drehstart gestern hatte er einen Anruf von seinem Manager bekommen, der das Foto im Internet entdeckt hatte. In jeder freien Minute hat er mit den Leuten seines Managements telefoniert und versucht, es irgendwie gelöscht zu bekommen. „Ich hatte Angst, verstehst du? Ich meine, ich kenne solche Situationen ja leider schon. Aber sobald da andere Personen beteiligt sind, hört der Spaß einfach auf." Er atmet tief ein und wieder aus. „Mein Manager hat gemeint, ich sollte dich auf gar keinen Fall kontaktieren oder gar im Studio vor den ganzen Zuschauern ansprechen, bevor die dann vielleicht auch noch rausfinden, wer das Mädchen auf dem Foto ist." Emma und Steff hatten also Recht, er wollte mich wirklich nur schützen. „Ich weiß natürlich, dass das für dich der blanke Horror gewesen sein muss, nicht zu wissen, was abgeht." „Mhm, kann man so sagen", bestätige ich. „Hör zu, es tut mir so leid. Ich hätte nicht auf meinen Manager hören und mich einfach bei dir melden sollen. Dich einfach nur zu ignorieren war falsch. Das hast du nicht verdient." Ich schaue ihn einfach nur an. „Außerdem hätte ich viel besser aufpassen müssen. Dich da mitten auf der Straße zu küssen, war die dümmste Idee überhaupt."
Aua, das tat weh. Er bereut es also, mich geküsst zu haben. Während ich gerade dabei bin, mich Hals über Kopf in diesen Typen zu verlieben. Na toll. Ich spüre, wie mir unweigerlich Tränen in die Augen schießen, weshalb ich schnell meinen Blick nach unten richte und nervös mit den Ringen an meinen Fingern spiele, um ihn nicht ansehen zu müssen. Doch Wincent legt seinen Finger an mein Kinn und drückt meinen Kopf sanft nach oben. Ich traue mich nicht, ihm in die Augen zu sehen. „Hey, sieh mich an", höre ich ihn flüstern. Ich richte meinen Blick auf und mein Gesicht ist jetzt direkt vor seinem. „Ich hätte dich dort auf dieser Straße nicht küssen dürfen, das war ein Fehler." Warum muss er es noch schlimmer machen, als es eh schon ist? Ich will einfach nur noch weg von hier. „Ich hätte dich mit zu mir nehmen sollen. Dort hätte ich dich die ganze Nacht ungestört küssen können." Warte, was? „Und ich würde dich jetzt so gerne nochmal küssen, um es dir beweisen zu können, wie leid es mir tut. Aber du hast ja schon klar gemacht, dass wir Arbeit zu erledigen haben", grinst er. Ich fasse es nicht, welche Wendung dieses Gespräch gerade genommen hat. Dann weicht Wincent zurück, steht auf und fragt: „Also Chefin, wo soll ich mich hinstellen?"
Nachdem ich mich wieder gefangen habe, drehe ich mit Wincent das vereinbarte kurze Interview und noch ein paar andere Videos, die ich mir für ihn überlegt habe. Mit jeder Minute wird die Stimmung zwischen uns lockerer und am Ende können wir sogar wieder miteinander lachen. Als wir fertig sind mit den Aufnahmen, bin ich fast schon traurig, dass wir uns jetzt zwei Tage nicht sehen werden. Wincent muss sich jetzt um sein Team kümmern und alles für die bevorstehenden SingOffs vorbereiten, während ich ein freies Wochenende hier in Berlin haben werde. Erst am Montag starten die offiziellen Dreharbeiten im Studio wieder. Ich packe gerade meine Tasche, da tritt Wincent hinter mich und nimmt meinen Arm. „Hey. Was ich vorhin gesagt habe, hab ich ernst gemeint. Es tut mir ehrlich leid. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen." Ich tue so, als wäre ich mir unsicher und sage trocken: „Hm, das muss ich mir noch überlegen. Du hast ganz schön Mist gebaut, weißt du?" Obwohl das eigentlich nur als Scherz gemeint war, schaut er mich mit ernstem Blick an. „Ich weiß, und ich würde es gerne wieder gut machen, wenn du mich lässt." „Sooo, an was denkst du?", frage ich. „Was machst du in den nächsten Wochen, wenn die Aufzeichnungen hier vorbei sind?" „Naja, sobald die SingOffs abgedreht sind, fahre ich erstmal nach Hause und werde dort wohl schon ein bisschen am Content arbeiten. Dann muss ich aber bald schon wieder für ein paar Tage nach München für eine andere Produktion." „München, das klingt gut. Meinst du, du hast dort mal Zeit, mit mir auszugehen?", fragt er zu meiner Überraschung. Ich sehe ihn skeptisch an. „Meinst du, das ist eine gute Idee, wenn wir wieder zusammen in der Öffentlichkeit unterwegs sind?" Er überlegt kurz und antwortet dann: „Okay, Punkt für dich. Wir machen es so: Du meldest dich, wenn du deinen Arbeitsplan für die Produktion in München hast und sagst mir, wann du mal einen freien Abend hast. Ich möchte für dich kochen. Bei mir zuhause. Keine Öffentlichkeit und keiner, der irgendwelche Fotos machen kann. Wie klingt das?" Ich muss grinsen. Er ist wirklich ein wahrer Gentleman. „Ja, okay. Das klingt gut. Ich werde gerne von dir bekocht", lache ich. „Oh, freu dich nicht zu früh. Ich kann überhaupt nicht kochen. Aber für dich werd ich's versuchen." Wir umarmen uns zum Abschied und auch, wenn heute nicht mehr zwischen uns passiert ist, bin ich sehr froh, dass wir uns aussprechen konnten und jetzt alles wieder in Ordnung ist.
Als ich im Hotelzimmer ankomme, rufe ich erstmal Emma an und erzähle ihr von den ganzen aktuellen Entwicklungen. Danach bestelle ich Sushi und mache mir einen entspannten Abend, während ich mir überlege, was ich an den nächsten zwei freien Tagen hier in Berlin alles machen könnte.

DU LIEST GERADE
wenn ich grad nicht träum'
Fanfiction» wenn ich grad nicht träum, dann will ich nie mehr schlafen « Stell dir vor, du bist Lina. Du hast dir gerade deinen Traum erfüllt und einen Job bei einer Fernsehproduktionsfirma bekommen. Für deine erste Produktion reist du extra nach Berlin, denn...