Und so kam es dazu, dass wir wie am Abend davor an eine Wand gelehnt Süßigkeiten futterten. Wenn es nach mir ging, könnte ab jetzt jedes Wochenende so ablaufen.
Vorsichtig sah ich Jerik, der irgendwie wie hypnotisiert wirkte, an. "Warum hast du deine Mutter so provoziert?", formte ich schließlich meine Gedanken zu einer Frage. Jerik überlegte kurz, wie er am Besten auf die Frage antworten konnte und knetete dabei seine Hände."Weil sie mich runtergestuft hat, schon wieder", meinte er dann mit starrem Blick nach vorne,"Weißt du, ich war immer eines dieser typischen Daddy Kinder. Während ich immer alles mit meinem Vater gemacht hab, hat Am was mit Mum gemacht. So war das halt und obwohl Dad nur selten zu Hause ist, ist es immer noch so. Amanda ist ihr Püppchen, ihr Ebenbild und auf sie kann sie stolz sein, weil sie in ihre Fußstapfen treten wird. Natürlich wird sie das. Und ich werde weiterhin Fotos machen, ein erfolgloser Fotograf werden, der nicht einmal einen Käufer hat. Und das ist nur ein weiterer Grund, warum man mir super die Schuld für dieses Szenario anhängen kann-ich bin der Einzige hier, der sich mit Fotos und Technik auskennt. In ihren Augen also auch der einzige, der Schuld sein kann. Was ich nebenbei bemerkt nicht bin. Der Hausarrest hätte mich sowieso erwartet, da konnte ich sie ruhig noch ein bisschen auf die Palme treiben." Den letzten Satz sagte er mit so einer Gleichgültigkeit, die ich ihm bei einem solchen Thema niemals zugetraut hätte. Das Ganze hätte ich ihm niemals zugetraut. Dass er eifersüchtig ist, dass ihm das so nahe geht und dass er mir das anvertraut.
Darauf sagte ich erstmal nichts, er hatte mich ja auch nicht um Rat gefragt. Was hätte ich auch sagen sollen? Dass er Recht hatte? Denn so war es. Es war bei vielen so, dass man zu einem Elternteil mehr Bezug hatte und Jerik hatte ganz schön Pech damit, dass sein Vater nur selten da war. Ja gut, Melissa war auch eine sehr vielbeschäftigte Frau, aber wenn sie nicht gerade auf Geschäftsreise war, war sie eigentlich immer Zuhause.Anstatt, dass ich also etwas dazu sagte, griff ich nach den Keksen und drückte ihm diese in die Hand. Eine Sache, die ja wohl jedem ein Lächeln aufs Gesicht zauberte.
"Hast du denn gar keine Angst, dass ich die Kekse klauen würde?", wollte er grinsend wissen und hielt sie noch ein Stückchen weiter weg von mir.
Diese Situation glich immer mehr der des vorigen Abends. Gruselig irgendwie.
An einer Wand lehnen, reden, Hunger haben, sich um Essen streiten.
Wie oft würde ich diesen Kreislauf noch durchleben? Und könnte man den letzten Punkt vielleicht einfach mit einem einfachen "Essen" ersetzen?
Jerik hatte wohl nicht vor, diesen Punkt auch nur ansatzweise auszutauschen und beugte sich weiter nach hinten, als ich gerade nach den Cookies schnappen wollte. Währenddessen sah er mich mit einem breiten Lächeln an, ein seltsames Lächeln, das ich an ihn noch nie an ihm gesehen hatte.
"Könntest du bitte aufhören, mich so anzusehen, als würdest du jeden Moment über mich herfallen und mir stattdessen einfach etwas von den Cookies abgegeben?"
Leise lachend schüttelte er den Kopf und mir war nicht ganz klar, ob das auf den ersten oder zweiten Teil des Satzes bezogen war. Gespielt genervt sah ich ihn an. Hätte ich den Hundeblick auch nur ein bisschen drauf, würde ich ihn jetzt anwenden. Hatte ich aber nicht."Wenn ich dich küssen darf, hast du die Cookies ganz für dich allein." Normalerweise könnte das ein Scherz sein, ein Witz, aber seine gedämpfte Stimme sagte mir etwas Anderes. Sie sagte mir 'Jill, verpiss dich lieber schnell, lauf zu Tesco und kauf dir deine eigenen Cookies.'
Und dann gab es da noch etwas in mir, was sich dagegen sträubte, sich auch nur einen Stück zu bewegen. Der Teil, der darauf wartete, dass er sich diese paar Zentimeter zu mir beugte und seine Lippen auf meine legte.
Es war doch nur ein Kuss, oder? Zwei Körperteile von zwei verschiedenen Menschen, die sich berührten, nichts weiter. Ich wurde schon lange nicht mehr geküsst, ohne, dass es eine Bedeutung hatte. Wenn etwas eine Bedeutung hatte, war das schon wieder zu viel für die liebe Jill.
Als könnte Jerik Gedanken lesen, presste er im nächsten Moment seine Lippen auf Meine. Und trotz meiner Theorie, dass an einem Kuss doch nichts falsch war, war da dieses Gefühl in meiner Magengrube. Und ich konnte nicht sagen, ob es positiv oder negativ war. Es sagte mir nur, dass ich womöglich einen riesigen Fehler begann.
In der ersten Sekunde riss ich meine Augen auf. Was machte ich hier? Toll, ich knutschte hier gerade mit meinem Schon-fast-sowas-wie-ein-Bruder rum. Aber anstatt, dass ich ihn wegdrückte, mich von ihm löste oder den Kuss einfach stur nicht erwiderte, tat ich genau das Gegenteil. Geleitet von dem außergewöhnlichem Gefühl, welches dieser Kuss in mir auslöste, schlang ich meine Arme um seinen Rücken und drückte ihn noch näher an mich.
Fast wie eine Umarmung, oder? Eine Umarmung, in der man halt zusätzlich noch ein Küsschen verteilt. Ich meine, es war doch nur ein harmloser Kuss, kein übertriebener Speichelaustausch oder gegenseitiges Verschlingen.
Ich muss sagen, ich war nicht gerade gut darin, mein Gewissen zu beruhigen, aber Jerik musste nichts weiter tun, als mir sachte mit der Hand die Haare aus dem Gesichts zu streichen und etwas zu nuscheln, was ich nicht mal verstand und schon waren diese Art von Gedanken wie weggeblasen. Na ja, im Prinzip waren einfach alle Gedanken aus meinem Gehirn verbannt, was wohl der Grund dafür war, warum ich nichts gegen diese Situation unternahm.
Aus unserem anfangs noch so sanften Kuss wurde ein leidenschaftlicher Tanz unserer beiden Münder, die sich mit Millisekunden Unterbrechung sonst nicht voneinander lösten. Ich konnte nicht glauben, dass ich vor drei Minuten noch hier saß und mich mit ihn um Cookies gestritten hatte.
Ich löste mich von ihm, er löste sich von mir und schnellen Griffes schnappte ich nach der Keksdose. Ich hatte ihn nicht wegen der Kekse geküsst, nein. Auch hatte das nichts mit romantischen Gefühlen zu tun. Es war dieses Matte in seinen Augen, was mir zeigte, dass er jetzt die Zuneigung brauchte, die er von seiner Mutter nicht bekam und Mitleid in mir weckte.
Zum Teil hatte ich ihn also aus Mitleid geküsst, zum Teil auch, weil ich ihn einfach küssen wollte. Na super.
"Sorry", stammelte er,"Das war nicht fair." Während er versuchte, mir einfach nicht ins Gesicht zu sehen stand ich nur schwach lachend auf."Ach, keine Sorge, ich kann es verstehen." Es zu sagen war irgendwie schwieriger, als es zu denken. Denn wenn ich es aussprach, gab es für ihn die Möglichkeit, mir es zu erklären. Und das wollte ich nicht.
Er sagte nichts. Das Einzige, was ich erkannte, war, dass sich Erleichterung in seinem Gesicht breit machte und er ergriff meine Hand, die ich ihm entgegenstreckte.
Wir gingen die Treppen hoch, wobei sich Jeriks Schritte eher wie die eines Elefanten anhörten. Wahrscheinlich wollte er einfach seine Mutter noch ein bisschen provozieren.
Die anderen vier warteten im Zimmer schon auf uns wie hungrige Paparazzi.
Als Shawn die Kekse in meiner Hand sah, schüttelte er amüsiert den Kopf."Haben wir nicht gerade Pizza gegessen?" Schulterzuckend ließ ich mich auf dem Bett nieder. Leider konnte ich diesmal gar nicht das ganze Bett für mich einnehmen.
"Ich hab noch Reste von meiner Pizza, also darf ich das", begründete ich. Jetzt meldete sich auch Amanda zu Wort:"Du vielleicht, aber Jerik hat seine ganze Pizza verputzt und sogar noch bei mir mitgegessen."
"Ach", wank ich ab,"Sein Körper wird das schon verkraften." Mit diesen Worten schlug ich ihm einmal gegen den Bauch, um die Anspannung, die zwischen uns lag, ein wenig zu verringern.
"Jetzt erzählt mal", forderte uns Beth auf und lehnte sich weiter zu uns. Verdutzt blinzelte ich. Bethany konnte ja wohl kaum erwarten, dass wir ihr jetzt von unserem Privatleben erzählen. Klar, das hätten wir sowieso gemacht, aber dass sie schon davon ausgeht und uns dazu auffordert, hätte ich ehrlich nicht erwartet.
Bevor ich aber etwas dazu sagen konnte, fing Jerik an, die ganze Geschichte nochmal zu erzählen. Ohne den Kuss natürlich.
Ich weiß nicht, was mich ritt oder dazu brachte, das zu tun, aber im nächsten Moment griff ich nach dem Stück kalter Pizza, was ich nicht mehr gegessen hatte und schleuderte es mit einem Kriegsschrei, den kein Krieger je besser hinbekommen hätte, an die Wand. Nach einem klatschenden Geräusch fiel sie lasch auf den Boden. Danach fühlte ich mich irgendwie besser, ganz im Gegensatz zu der beschmierten Wand, würde ich jetzt mal so behaupten. Mit großen Augen starrte ich in Richtung Pizza. An diesem Tag war definitiv zu viel für meine Nerven passiert.
Alle Blicke im Raum lagen auf mir und meine Freunde sahen mich so an, als würden sie mich jetzt nur zu gerne in die Klapse stecken. Vielleicht wäre das auch besser gewesen. Wer wirft denn bitte mit Pizza um sich?
Erst, als Jerik mich an sich drückte und sich gefühlte tausend Mal bei mir bedankte, entspannte ich mich. Es entspannte mich aus dem Grund, dass ich jetzt wusste, dass alles normal war. Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass ich jetzt wusste, wie sich seine Lippen auf meinen anfühlten. Und das sollte ich eigentlich nicht wissen.
"Danke, Jill! Endlich hab ich einen Grund, meine Wand neu zu streichen!", meinte er strahlend. Okay, das hätte ich jetzt nicht erwartet. Das hinderte mich aber auch nicht daran, in Gelächter auszubrechen.
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Amor? There's just me, but it's actually the same
Novela JuvenilJill Erikson ist bekannt dafür, die Schüler auf ihrer Highschool zu verkuppeln. Sie gibt Tipps und schmiedet Pläne, wie man Herzen für sich gewinnt. Schon ziemlich verrückt, wenn man bedenkt, dass sie selber noch keine ernste Beziehung geführt hat...