Ein Mord und eine Vision

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Ich habe keine Heimat, keinen warmen Platz, den ich mein eigen nennen kann. Ich habe keine Familie, kein Geburtsrecht, keine Sippe. Ich bin ich, nicht mehr."

aus Klagelied eines Tieflings


Erster Markttag von Retributus, 126 HR

Der Minotaurus Schwarzhuf hatte ihnen die Blutgrube und die Bar zur Schwelenden Leiche als Anlaufpunkte genannt hatte, um Informationen zu den Morden zu finden. Nachdem die Blutgrube keine wirklichen Ergebnisse geliefert hatte, beschloss die zusammengewürfelte, halb-offizielle Ermittler-Gruppe, ihr Glück in der Taverne zu versuchen. Diesmal bogen sie direkt links von der Blutgrube in eine schmale Gasse ab, um wieder zurück Richtung Torhaus zu kommen. Auf diese Weise würden sie zu ihrem Ziel gelangen, ohne erneut den Nachtmarkt überqueren zu müssen. So zumindest sagte Jana, und sie kannte sich in diesem Teil Sigils am besten aus. Zwar hatte auch Naghûl einige Jahre hier gelebt, doch dies lag eine ganze Weile zurück, und die Dabus hatten in der Zwischenzeit einiges umgebaut. Nachdem sie die schmale Gasse durchquert hatten, kamen sie wieder in eine etwas breitere und belebtere Straße. Zu sehen war die für den Stock übliche Mischung aus Bettlern, Prostituierten, Fuslern, Scheusalen, Schlägern und ein paar möglicherweise tatsächlich ganz gewöhnlichen, wenn auch bitter armen Bürgern, die einer nächtlichen Arbeit nachgingen oder auf dem Weg von oder zu einer der vielen heruntergekommenen Tavernen der Gegend waren. Sie passierten gerade einen größeren, scheinbar völlig willkürlich aufgetürmten Gerümpelhaufen, hinter dem ein paar Kobolde ein notdürftiges Lager errichtet hatten, als ein heiserer Schrei Naghûl jäh zusammenzucken ließ.

Dagon!" schallte es laut und weit durch die dunkle Straße.

Auch die anderen fuhren herum. Naghûl runzelte die Stirn.

Selbst im Stock war es nicht völlig alltäglich, den Namen eines Dämonenfürsten durch die Gegend zu schreien. Zu viele Tanar'Ri, deren unerwünschte Aufmerksamkeit man hätte wecken können. Warum jemand hier den Prinz der Dunklen Tiefen anrief, mochte zahlreiche Gründe haben - und keinen davon wollte der Tiefling näher wissen, wenn er ehrlich war. Er lenkte seine Schritte hinter Jana um den Gerümpelhaufen herum, als schon ein weiterer Ruf ertönte.

Lamashtu!"

Dieselbe Stimme, wie es schien, doch diesmal rief sie die Dämonenkönigin der Monströsen Geburten an. Nun blieb Jana stehen und sah sich unbehaglich um. Aus einer Seitengasse tauchte ein Mann auf, den man in der Dunkelheit nicht gut erkennen konnte, doch schien der Ruf aus dieser Richtung gekommen zu sein. Er schlurfte nicht wie ein Fusler in die Gasse, hatte nicht den übertrieben selbstbewussten Gang eines Schlägers, aber auch nicht den müden und erschöpften eines normalen, geschundenen Stockbewohners - nein, er bewegte sich merkwürdig ruckartig, abgehackt, unnatürlich ...

Fraz-Urblu!" schrie er jetzt. „Ja, und Zuggtmoy!"

Er bewegte sich auf geradezu verzerrte Weise, alle Körperteile schienen in eine andere Richtung zu zucken. Naghûl bemerkte das Unbehagen der anderen, als Jana erklärte, dass hier die Namen verschiedener Dämonenfürsten gerufen wurden. Sein Bauchgefühl sträubte sich durchaus dagegen, sich auch nur in die Nähe eines solchen Schluckers zu begeben, der seiner Ansicht nach am besten im Torhaus aufgehoben gewesen wäre. Doch sagte ihm eben jenes Gefühl leider auch, dass dies hier möglicherweise von Interesse für sie sein mochte.

„Ich würde sagen, wir folgen ihm" erklärte er daher leise. „Aber mit Abstand. Ich will wissen, was passiert, wenn jemand die Namen von Dämonenfürsten durch den Stock plärrt. Ich will nur nicht daneben stehen."

Der Mann bewegte sich nun zuckend und krampfend die Straße hinunter und machte tatsächlich unbeirrt weiter.

Malcanthet, die Wunderschöne!" rief er aus.

Schatten von Sigil - Die Ewige GrenzeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt