Disharmonische Visionen

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Jeder hat eine starke Meinung über das Harmonium – ganz besonders das Harmonium."

Suwein Lous, Sinnsaten-Dichterin


Erster Stocktag von Retributus, 126 HR

Nach seinem kurzen Besuch bei Bundmeisterin Erin hatte Naghûl die Nacht in seinem Quartier in der Festhalle verbracht. Jana und Sgillin waren gemeinsam mit Eliath und Lereia in deren Haus geblieben, während Kiyoshi sich zurück zur Kaserne begeben hatte. Und genau dort trafen sie am nächsten Morgen wie abgesprochen alle wieder zusammen. Sie meldeten sich bei der Concierge, Lady Diana, an und wurden auch sogleich zu Bundmeister Sarin vorgelassen. Als sie sein Büro betraten, verneigten sie sich alle zur Begrüßung, wobei Naghûl Kiyoshi neugierig von der Seite her beobachtete. Die Knie des jungen Mannes schienen tatsächlich kurz zu zucken, doch er blieb stehen, verbeugte sich und schlug die Faust auf die Herzgegend. Dann verharrte er bewegungslos. Sarin nickte den Eintretenden zu, und dem Tiefling fiel auf, dass der Bundmeister an diesem Tag ein wenig ramponiert wirkte. Er hatte ein blaues Auge und eine relativ frische Platzwunde über der rechten Braue. Naghûl nickte bei sich. Sarin war dafür bekannt, auch jetzt noch regelmäßig heiklere und gefährlichere Einsätze zu leiten und dabei auch gerne in erster Reihe zu stehen. Das trug sowohl zu der Anerkennung bei, die seine Leute für ihn empfanden als auch zu dem Respekt, den die kriminellen Elemente Sigils ihm gegenüber verspürten – allerdings nicht immer zu seiner Gesundheit, wie man sah. Er schien allerdings kein Mensch zu sein, der sich von derartigen Dingen abhalten ließ. Nun blickte er von dem Brief auf, den er gerade schrieb, und nickte ihnen zu.

„Der Segen der Dame", grüßte er sie und sah dabei kurz zu Eliath.

Der Magier wurde allein bei diesem flüchtigen Blick ein wenig kleiner, doch der Bundmeister wandte sich sogleich an Kiyoshi. „Soldat?"

„Ehrwürdiger Bundmeister Sarin-gensui", erwiderte dieser. „Dies ist Eliath, der angeblich des Todes war und angeblich zurück kam. Wir würden ihn gerne hier in der Kaserne in Schutzhaft nehmen lassen, da er ein wichtiger Informant sein könnte."

Sarin brauchte ein paar Sekunden und hob dann forschend die unverletzte Braue. „Wie bitte? Langsam ..." Er steckte die Feder, die er in der Hand hielt, ins Tintenfass zurück. „Aha, Ihr seid also Eliath." Er wandte seinen Blick nun wieder dem Magier zu. „Ja, Ambar hat es mir berichtet, in seiner farbenfrohen Art."

Lereia lächelte kurz bei dieser Bemerkung, Eliath hingegen wurde blass.

„Ich ... ich entschuldige mich vielmals, Bundmeister", stotterte er und verneigte sich tief.

„Aha." Sarin musterte ihn skeptisch. „Für was denn?"

„Na ja ..." Der Magier schluckte. „Für alles, denke ich ... Vorsichtshalber ..."

Lereia legte ihm beruhigend ihre Hand auf den Unterarm und Naghûl warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. Er konnte gut nachvollziehen, wie überfordernd es war, so plötzlich direkt vor einem Bundmeister Sigils zu stehen – noch dazu vor dem des Harmoniums, wenn man in Schutzhaft genommen werden sollte. Sarin musterte Eliath eingehend.

„Ich gratuliere Euch zu Eurer glücklichen Auferstehung von den Toten", meinte er dann.

Seinem Tonfall konnte Naghûl nicht wirklich entnehmen, ob Ironie oder Skepsis in seiner Stimme mitschwang. Möglicherweise war es auch beides. Eliath lächelte nervös, dann wandte der Bundmeister sich wieder an Kiyoshi.

„Bericht", befahl er knapp.

Der junge Soldat nahm umgehend Haltung an. „Ehrenwerter Bundmeister Sarin-gensui, wir erhielten erste Informationen zu Eliaths Verbleib ..."

Schatten von Sigil - Die Ewige GrenzeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt