Torannas Befragung

0 0 0
                                    

Letztlich gehört jeder zu den Staubmenschen. Nur weiß es noch nicht jeder."

Bundmeister Skall


Erster Gildentag von Retributus, 126 HR

Janas Wohnung war klein, aber für Stockverhältnisse recht wohnlich und angenehm. Sie besaß einen Erker, der an klaren Tagen sogar einigermaßen viel Licht hineinließ, da die Hexenmeisterin im sechsten Stock unter dem Dach und somit etwas über den meisten umliegenden Gebäuden wohnte. In diesen Erker hatte Jana ihren Schreibtisch gebaut. Der Boden aus Holzdielen war in recht gutem Zustand, es gab sogar ein paar alte Teppiche und einen Badezuber in einer der Ecken. Auf einer offenen Feuerstelle links neben der Eingangstür erwärmte ihre Gastgeberin einen Eintopf aus Rüben und Hydraknollen, während sie ihre nassen Umhänge zum Trocknen aufhängten und sich allmählich wieder aufwärmten. Jana fütterte ein paar streunende Katzen, und sie sprachen beim Essen über die Ereignisse des hinter ihnen liegenden Tages. Doch sie waren alle müde und erschöpft, so dass sie sich bald zur Ruhe legten. Es gab ein Stockbett, dessen obere Etage Jana Lereia anbot, zudem hatte sie noch eine aufklappbare Pritsche herumstehen. Sgillin und Kiyoshi überließen diese Naghûl und breiteten sich zum Schlafen ein paar Decken auf dem Boden aus. Als sie sich für ein paar Stunden wohlverdienten Schlafs niederlegten, war es bereits fast drei Stunden nach Gegenzenit.

Sie erwachten erst eine Weile nach dem Ersten Licht. Da draußen ein trüber Tag war, hatte der Morgen nicht allzu viel Helligkeit in die kleine Wohnung geschickt, die sie hätte wach kitzeln können. Jana verteilte einen Laib von schon recht hartem Bot und ein paar Äpfel zum Frühstück und brühte etwas Tee und Kaffee auf. Während er das heiße, schwarze Getränk durch seine Kehle rinnen ließ, lehnte Naghûl sich auf dem einfachen Holzstuhl zurück, auf dem er saß. Ja, es war eine gute Entscheidung gewesen, eine Pause zu machen und die Nacht hier bei Jana zu verbringen. Ihre Kleidung war getrocknet, sie hatten gegessen und ein paar Stunden dringend nötigen Schlaf gefunden. Nun war er in besserer Verfassung, einen Ort wie die Leichenhalle aufzusuchen. Sie packten ihre Sachen zusammen, nahmen ihre Mäntel und verließen Janas Wohnung, um den Staubmenschen einen Besuch abzustatten. Es war kühl, der Himmel grau und fahl, so als ob jemand mit einem schmutzigen Lappen darüber gewischt hätte. Einige wenige Wolken trieb der Wind auseinander wie zerfetzte Gespenster. Man spürte, dass es bald regnen würde, wenn nicht am selben Tag, dann am nächsten. Sie machten sich auf den Weg zur Leichenhalle, doch schon nach kurzer Zeit kam ein schmutziger Straßenjunge von etwa zehn Jahren auf die Gruppe zu. Er zog an Sgillins Mantel und flüsterte ihm etwas zu. Der Halbelf entschuldigte sich daraufhin bei der Gruppe, er müsse leider kurz weg, habe etwas Dringendes zu erledigen. Lereia runzelte die Stirn, sagte aber nichts weiter, und auch Naghûl nickte nur leicht. Sgillin hielt sich nun schon seit ein paar Monaten in Sigil auf und hatte offenbar das eine oder andere Geschäft in der Stadt getätigt. Er hatte nie genauer erwähnt, worum es dabei ging, und Naghûl hatte es stets dabei belassen. Jeder hatte seine eigenen Angelegenheiten, der Tiefling respektierte das. So machten sie sich zu viert auf den Weg ins Bund-Hauptquartier der Staubmenschen. Da es im Stock keine Fahrdienste gab und man die meisten Wege zu Fuß zurücklegen musste, dauerte es immerhin über eine Stunde, bis sie ihr Ziel etwa zwei Stunden vor Zenit erreichten. Da sie aber nicht über ein Gebiet wie den Nachtmarkt gehen mussten, gab es keine derart brenzligen Situationen mit Kiyoshi wie am Abend zuvor. Lediglich die allgemeine Armut und Misere des Stocks umgab sie allgegenwärtig, rief alte Erinnerungen in Naghûl hervor und schlug Lereia offenbar aufs Gemüt. Dann erhob sich vor ihnen das große, kuppelförmige Gebäude, das den ganzen Grauen Distrikt dominierte, bekrönt von zwölf riesigen, metallenen Schwingen und flankiert von massiven, klingenbekränzten Türmen. Reliefs von Knochen, Skeletten und Schädeln schmückten die Außenmauern, und vor dem Tor standen zwei große Knochengolems, vollkommen unbeweglich, doch jederzeit bereit, die Halle, die Bundmitglieder und die Trauergäste zu schützen. Nicht weit vom Eingang entfernt stand ein Karren, auf dem offenbar mehrere Leichen lagen - man konnte einige Füße, zwei Hufe und einen schlaff herabhängenden Arm unter der dreckigen Plane hervorschauen sehen, mit der die Ladung abgedeckt war. Ein mageres, schwarzes Pferd war angespannt, und auf dem Bock saß ein Sammler, der wohl gerade mit einem der Staubmenschen über den Preis für die „Lieferung" diskutierte. Lereia sah bedrückt hinüber und schüttelte sich, als sie die Knochengolems am Eingang passierten. Naghûl nickte bei sich. Ja genau, und aus diesem Grund kam er nicht gerne hierher. Als sie eintraten, erstreckte sich vor ihnen ein weitläufiger Saal aus grauem Stein, getragen von mächtigen Pfeilern und Säulen, überdacht von einem hohen Gewölbe. In der Mitte stand eine Statue in dunkler Robe, die ein symbolisches Abbild des Todes darstellen sollte. Ansonsten war der große Eingangssaal fast leer - bis auf ein paar der untoten Arbeiter, Skelette und Zombies, die hier herum schlurften. Denn die Staubmenschen wandelten Personen, die ihnen ihre Körper verkauften, nach deren Ableben in Untote um und verwendeten sie als Arbeitskräfte für einfache Tätigkeiten in der Leichenhalle. Wer einen solchen Todesvertrag schloss, bekam eine für Stock-Verhältnisse ansehnliche Menge Klimper. Die Schlucker, die das taten, machten es für gewöhnlich, um ihre Familien zu ernähren und es war ihnen egal, was nach ihrem harten und oft zu kurzen Leben mit ihren Körpern geschah. Wenn die sterblichen Überreste nicht in einem Säurebad skelettiert wurden, so balsamierten die Staubmenschen sie sorgfältig ein, da sie ihre Zombies in einem recht guten Zustand konservieren und nicht verfallen lassen wollten. Daher rührte auch der typische Geruch der Leichenhalle. Man hätte meinen können, dass es wegen der Untoten, vor allem der Zombies, hier grauenhaft nach Tod und Verwesung stank, doch dem war nicht so. Es roch zwar etwas muffig und staubig, aber vor allem auch stark antiseptisch, ausgehend von den Untoten, die die Staubmenschen sorgfältig instand hielten. Zusätzlich schwebte über allem der Geruch von Weihrauch, Balsamierungsöl und welkenden Blumen. Naghûl wollte sich schon an einen der untoten Arbeiter wenden, rief sich dann aber sogleich in Erinnerung, dass dies sinnlos war. Alle Zombies hatten zugenähte Münder, denn die Staubmenschen bevorzugten schweigende Arbeitskräfte. Als Lereia die mit grobem Faden zusammen gehefteten Lippen des nahen Arbeiters sah, wurde sie blass.

Schatten von Sigil - Die Ewige GrenzeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt