„Es ist unverständlich, warum einige Leute das Harmonium nicht mögen. Schließlich versuchen wir, Frieden und Wohlstand nicht nur Sigil zu bringen, sondern auch dem Rest des Multiversums. Und dennoch, aus welchem Grund auch immer, betrachtet man uns oft als militaristisch, als intolerante Dickschädel, die alle anderen unterdrücken und hassen. Das entspricht einfach nicht den Tatsachen."
Philian Thobis, Anwerber des Harmoniums
Zweiter Untertag von Retributus, 126 HR
Die ersten Tage in ihrem neuen Amt waren für Amariel aufregend und auch verwirrend gewesen. Nach zwei Wochen hatte sie sich einigermaßen daran gewöhnt, jeden Morgen zwei Stunden nach dem ersten Licht in Sarins Büro zu sein, um mit ihm die täglichen Bundgeschäfte durchzugehen. Plötzlich ging es nicht mehr um so einfache Dinge wie Dienstpläne oder Inventuren der Ausrüstungsbestände. Nun hatte sie die Aufgabe, die persönlichen Termine des Bundmeisters zu organisieren, ihm einen Überblick zu verschaffen, was jeden Tag in der Sigiler Presse stand, sogar Nachrichten und Briefe in seinem Namen zu verfassen. Nicht immer fiel es ihr dabei leicht, sich voll und ganz auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. Denn noch immer verspürte sie jeden Morgen ein Kribbeln im Bauch, wenn sie ihrem Bundmeister gegenüber trat. Amariel hoffte inständig, dass sich das bald geben würde. Sie wusste, ihre Gefühle waren unangebracht, umso mehr da Sarin verheiratet war. Aber sie konnte sie nun einmal nicht einfach abstellen. Durch ihre neue Tätigkeit hatte sie nun auch ab und an Kontakt zu Sarins Familie: zu seiner Frau Faith, seinen neun Kindern und dem Tieflingsmädchen Yaëlla. Dass Yaëlla nur offiziell Sarins Sklavin, in Wahrheit aber eher wie eine Tochter für ihn war, hatte Amariel schon vorher gewusst. Was sie dagegen nicht erahnt hatte, war die Existenz einer geheimnisvollen Prophezeiung und einer gewissen Göttermaschine. Ein paar Tage nach ihrem Amtsantritt als Adjutantin hatte Sarin sie in die ganze Geschichte eingeweiht und diese Sache beschäftigte Amariel nun ebenso sehr wie ihre süßen, aber zugleich schmerzlichen Gefühle für ihren Bundmeister. Immerhin begriff sie endlich die merkwürdige Sonderrolle, die der erst so kürzlich dem Bund beigetretene Kiyoshi spielte. Sie hatte die Aufgabe gehabt, dem ernsten, verschlossenen jungen Mann bezüglich aller Fragen über das Harmonium zur Seite zu stehen und ihn dabei trotz seiner trockenen Art ins Herz geschlossen. Das waren noch einfachere Tage gewesen, doch nun wusste sie über etwas Bescheid, dass sogar ihren Bundmeister fortwährend beunruhigte. Er sprach wenig darüber, doch seit sie so eng mit ihm zusammenarbeitete, bemerkte sie es. Genau zwölf Tage nach ihrem Amtsantritt konfrontierte Sarin sie dann mit der nächsten Enthüllung. Amariel betrat wie immer um Punkt zwei Stunden nach dem Ersten Licht Sarins Büro, verneigte sich tief und nahm auf eine Geste von ihm hin an dem großen Besprechungstisch Platz. Ihr Bundmeister stand vor dem Globus, der seine materielle Heimat Ortho darstellte, und starrte ihn an, als sei er für all seine Probleme verantwortlich. Für einige von ihnen war er das womöglich sogar ... Er brauchte einige Augenblicke, um sich davon loszureißen, dann trat er an den Tisch und nahm schräg gegenüber von Amariel Platz.
„Guten Morgen, Dekuria", grüßte er sie und seine volle Stimme schien dabei in jeden Winkel des Raumes zu dringen. „Wir überspringen heute die üblichen organisatorischen Punkte. Es gilt eine sehr wichtige Mission für das Harmonium und Sigil zu erfüllen und ich möchte Euch damit beauftragen."
Diese Worte beschleunigten Amariels Herzschlag gehörig. Und obgleich sie Sarins Menschenkenntnis sehr bewunderte, verfluchte sie sie immer in jenen Momenten, in denen er so genau erkannte, was in ihr vorging.
„Keine Sorge, Dekuria. Ich würde Euch nicht mit dieser Sache betrauen, wenn ich nicht sicher wäre, dass ihr der Aufgabe gewachsen seid."
Sie nickte fest. „Natürlich, Bundmeister. Und ich darf Euch versichern, dass ich bereits die ein oder andere brenzlige Situation in den Außenländern und auch hier in Sigil ganz gut gemeistert habe."
Er sah sie an und sie vermeinte, einen Funken Überraschung in seinen dunklen Augen zu erkennen.
„Verzeihung", schwächte sie ihre vorangegangene Bemerkung ab, „Ich wollte nicht unbescheiden sein."
Er hatte wieder dieses Lächeln, das er nur im Kreis seiner Familie oder bei engeren Vertrauten zeigte. „Schon gut, Dekuria. Ich finde es gut, wenn meine Offiziere Selbstvertrauen zeigen. Was Eure Mission angeht: Ich hatte Euch von den jüngsten Ereignissen in der Leichenhalle berichtet."
„Ja, Herr. Von jener merkwürdigen Zitadelle, die hinter dem Portal auf die Feuerebene liegt."
„Eben diese", bestätigte Sarin, „Da ja leider aufgeflogen ist, dass ich und ein paar meiner Kollegen ohne Wissen der Staubmenschen dort aktiv waren, bin ich um ein persönliches Treffen mit Bundmeister Skall nicht herumgekommen." Seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass es keine angenehme Unterredung gewesen war. „Skall ließ sich davon überzeugen, die Sache auf sich beruhen zu lassen, wenn wir dafür das Problem mit der Zitadelle aus der Welt schaffen."
„Aus der Welt schaffen?" fragte Amariel vorsichtig, „Aber wie?"
Seufzend lehnte Sarin sich in seinem Stuhl zurück. „Nachdem die Erwählten dort gewesen waren, hatte Skalls Stellvertreter, Faktor Trevant, einen Erkundungstrupp zu der Zitadelle geschickt. Es stellte sich heraus, dass die Erleuchteten ihre Festung offenbar schnell verlassen hatten, um ihre Geheimnisse zu schützen. Sie hatten viele Aufzeichnungen mitgenommen oder vernichtet. Ein paar Dokumente konnten wohl gerettet werden, doch sie sind nun im Besitz der Staubmenschen."
„Das ist bedauerlich, Herr."
„Allerdings, aber leider nicht zu ändern. Bei der Durchsuchung der Zitadelle fand man im Labor dieser Githzerai sowie in der Tempelanlage einen roten Kristall. Offenbar handelt es sich jeweils um einen mächtigen Fokus, der als Kraftquelle dient, um sowohl die atembare Atmosphäre um die Zitadelle herum zu erzeugen als auch die Festung an ihrem Standpunkt an dem Portal zu halten."
Amariel nickte vielsagend. „Und würde man die Kristalle zerstören ..."
„Würde die Zitadelle vom Portal wegdriften", bestätigte Sarin. „Möglicherweise würde sie letztendlich auch ganz zerstört."
„Lasst mich raten: Bundmeister Skall will, dass das Harmonium diese Sache erledigt, um nicht Mitglieder seines Bundes einer möglichen Gefahr auszusetzen?"
Eine gewisse Selbstironie lag in Sarins Stimme, als er antwortete. „So ist es. Aber es ist ja nichts Neues, dass wir für alles, was in dieser Stadt schief läuft, den Kopf hinhalten sollen. Ihr, Dekuria, seid eine talentierte Kämpferin, eine Gesalbte Ritterin und eine gute Strategin. Ihr werdet Euch eine kleine Truppe von fünf bis sieben Leuten Eurer Wahl zusammenstellen und diese Mission, da bin ich sicher, erfolgreich durchführen. Ach ja, und Faktotum Zamakis wird Euch begleiten, darauf hat Skall bestanden."
„Man traut uns nicht, welch Überraschung", bemerkte Amariel ironisch, was Sarin ein Lächeln entlockte.
„Genau. Also alles wie immer in der Stadt der Türen."
Sie erwiderte das Lächeln warm. „Dann werde ich mich sofort auf die Mission vorbereiten und meine Truppe zusammenstellen, Herr."
Auf sein Nicken hin erhob sie sich und war schon bei der Tür, als ihr Bundmeister sie noch einmal zurück rief.
„Dekuria, eines noch. Wie Ihr wisst, ist in einigen Monaten der Tag der Schmerzen."
Sie blickte ihn mitfühlend an, versuchte aber sofort, das Gefühl aus ihrem Blick fernzuhalten, als sie es bemerkte. Sarin konnte auf derartige Bekundungen gewiss gut verzichten.
„Ja, Bundmeister, ich weiß", erwiderte sie daher neutral.
„Euch ist sicher auch bekannt, dass jeder Bundmeister an diesem Tag einen Ritualhelfer benötigt."
Ihr Herzschlag beschleunigte sich. „Ja, Herr ..."
„Ich habe an Euch gedacht."
Nur fünf Worte. Fünf so einfache Worte, und zum zweiten Mal in so kurzer Zeit stieß er ihre Welt aus den Fugen ...
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Dies ist das letzte Kapitel von "Die Ewige Grenze", dem ersten Abenteuer, das ich mit meiner Gruppe im Rahmen unserer Kampagne "Schatten von Sigil" gespielt habe, vom 12. November 2011 bis 18. Mai 2012.
Der zweite Teil ist "Der Deva Funke".
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Schatten von Sigil - Die Ewige Grenze
FantasyDie Abenteuer eines Tieflings, eines Halb-Elfen, einer Wertigerin, einer Hexe und eines jungen Kriegers aus Kamigawa in Sigil, der Stadt der Türen, basiernd auf dem Planescape-Abenteuer Die Ewige Grenze. Find the english version here: https://www.wa...