Teeblätter

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Harry Potter stand in der Mitte des Zimmers und fühlte sich umzingelt. Er hielt dieses Gefühl für durchaus gerechtfertigt. Tische voller Erinnerungsstücke, schwere Möbel im viktorianischen Stil mit Prunk und Plüsch, kleine Wand und Webteppiche, die heimtückisch auf die Gelegenheit warteten, um arglos unter einem Fuß davonzujagen, wie auch angelaufene Nippes-Figuren umzingelten ihn.
Und die Bücher – mein Gott, die Bücher. Die hatte er ganz vergessen. Das Zimmer, in dem er stand, war auf ganzen drei Seiten mit schweren Bücherregalen gesäumt, allesamt vollgestopft bis zum Bersten und darüber hinaus. Comics, Taschenbuchausgaben und uralte Bestseller drängten sich dicht an dicht aneinander und platzen fast schon aus den Regalen.
Seufzend wandte sich der junge Gryffindor ab und stolperte prompt über einen Stapel mit  Manuskripten. Broschüren und gefühlt tausend Pamphleten begruben ihn unter sich, als er die Balance verlor und kopfüber in einen weiteren Stapel stolperte. Verdammt! Warum zum Teufel hatte er sich nochmal auf diesen Wahnsinn eingelassen? Warum konnte er nicht einmal „nein" sagen? Harry kämpfte das Bedürfnis nieder, schreiend zur Haustür hinauszurennen, in den nächsten Zug zu springen, nach Hogwarts zurückzukehren und das Haus der lieben Mrs. Arabella Figg mitsamt seinem Inhalt jemand anderen zu überlassen, der auch in den Sommerferien zaubern durfte. Im Rest des Hauses sah die Lage nämlich ähnlich erschreckend aus. Jede noch so kleine Oberfläche war mit schweren Wälzern, Papieren und altertümlichen Gegenständen übersät. Der Gryffindor liebte die verrückte Katzenlady wirklich sehr, doch ihr langes, erfülltes Leben machte ihm nun einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. In all den Jahren hatte Mrs. Figg nichts weggeworfen. Rein gar Nichts! Jeder Schrank in diesem Haus schien ächzend aus den Fugen gehen zu wollen.
Als sie Harry eines Tages wortwörtlich überfallen und ihn gebeten hatte, einer alten Dame beim Ausmisten zu helfen, hatte er noch nicht gewusst, was da genau auf ihn zukommen würde.
„Ruhig bleiben", sagte er sich und holte tief Luft. Er würde das schon schaffen.
Er war ein Gryffindor. Und ein Gryffindor hatte sich der Herausforderung zu stellen. Egal wie schlimm es auch werden würde.

– Bestenfalls fackeln wir einfach das Haus ab. –

Harry seufzte leise und ignorierte die boshafte Stimme in seinem Kopf.
Die Bücher waren vorerst der einfachste Teil. Sie müssten nur einmal durchgesehen und sortiert werden. Danach müsste er einige Eulen entsenden und die Wälzer abholen lassen. Ein Muggelunternehmen bräuchte dafür gewiss einen LKW in der Größe eines Schiffscontainers.
Wenn nicht zwei Stück, fügte er in Gedanken hinzu und seufzte. Erneut sah er sich um.
Die unzähligen Klamotten waren auch kein Problem. Die könnte er in schwarze Säcke stopfen und zu den nächstgelegenen Altkleidercontainern schleppen. Er hatte zwar keine Ahnung, was man mit einem Haufen Frauenklamotten, die streng nach Mottenkugeln und irgendeinem seltsamen Waschmittel dufteten, anfangen würde, aber vielleicht waren die Armen, die in diesen Genuss kommen würden, ja nicht so wählerisch. Allmählich fiel Harry das Atmen leichter und ächzend erhob er sich aus dem Stapelhaufen. Er hatte noch ungefähr einen Monat Zeit, bevor es ihn wieder nach Hogwarts ziehen würde. Vielleicht würde die Zeit ja doch reichen, um das Haus der alten Mrs. Figg wieder auf Vordermann zu bringen. Aber wenn er sich so umsah, würde es gewiss ein halbes Jahr oder länger dauern, um dieses Chaos loszuwerden.
„Harry, mein Lieber, eigentlich wollte ich ja eher mit dem Ausmisten beginnen", sagte die alte Dame kleinlaut, als sie mit einer Tanne heißen Tee und zwei Tassen in das Zimmer kam.
„Ich hoffe, ich ruiniere dir nicht deine Sommerferien?"

– doch, das tun Sie. –

„Nicht doch, nicht doch", erwiderte der junge Zauberer herzlich und lächelte, während er versuchte sich nichts anmerken zu lassen.
„Ich bin froh, dass ich helfen kann. Dank Ihnen muss ich nicht bei den Dursleys meine Zeit verbringen."'

– Vor allem bin ich froh, nicht weiter über Sirius Tod nachdenken zu müssen. –

Der Bursche ging auf einen der Tische zu und ergriff eine große Schale aus Porzellan. Sie war mit verschnörkelten Mustern und Blumen aus Blei gefüllt. Wenn er es bedachte, hätte es ihn viel schlimmer treffen können. Die alte Mrs. Figg hatte ihm sozusagen einen Freibrief beschafft, um den Klauen der Dursleys vorerst zu entgehen. Lieber verbrachte er hier, in diesem vollgestopften Haus seine Zeit, als sich mit seinem penetranten Onkel und seiner pferdegesichtigen Tante abgeben zu müssen. „Möchten Sie die Dinge einem Museum überlassen?", fragte er zweifelnd und stellte die Porzellanschale zurück. Das Haus war voller Gegenstände aus unzähligen Jahrhunderten. Harrys Finger wanderten unwillkürlich zu einem großen schwarzen Wälzer hinüber, um die ausgeblichenen Linien der Gravur nachzuzeichnen.
„Kommt nicht infrage", sagte sie laut. „Ich kann mich doch nicht einfach so von meinen geliebten Schätzen trennen."
Die Tassen des Teeservices klapperten laut, als sie heftiger als nötig abgestellt wurden. Der junge Zauberer hätte fast schwören können, dass sie auf eben diese Gelegenheit gewartet hatte. Mrs. Figgs Stimme hatte so einen seltsamen Unterton inne, der ihn bewog, sie anzusehen, doch sie erwiderte seinen Blick nur mit einem kleinen Lächeln. „Nun, sie hier zu horten ist der beste Weg zum Wahnsinn", erwiderte Harry locker und zog die Hand zurück. „Sie müssen ja nicht alles hergeben. Das verlangt niemand. Aber hier sind Dinge, die Sie doch wirklich nicht benötigen werden", fügte er leise hinzu, griff unter einen Stapel Pamphleten und zog ein beschlagenes Widderhorn, das wohl als ein Schnupftabakspender fungieren sollte, hervor. „Na ja, also die Dinge aus der Garage können auf jeden Fall weg", lenkte die alte Frau nun grummelnd ein. Der Gedanke an den Krimskrams, der ihn dort noch erwarten würde, ließ ihn kurz die Knie weich werden.
Als er sich einen ersten Überblick über das vorherrschende Chaos verschafft hatte, hatte er die unzähligen ungeöffneten Kisten, die dort schon seit ungefähr zwanzig Jahren standen, nicht groß beachtet. Harry fragte sich, warum die alte Dame denn nicht früher auf die Idee gekommen war, all das Zeug loszuwerden, obwohl sie doch wusste, dass die Dinge nicht weiter benötigt werden.
Stattdessen fragte er: „Und wo soll ich das Zeug hinbringen? Vielleicht kennen Sie jemanden, der mir helfen kann. Diese Aufgabe allein ist schon ein kleines Projekt."
Der junge Zauberer lächelte weiter, doch in seinem Gesicht änderte sich etwas. Er richtete den Blick wieder auf einen der Wälzer. Sein Lächeln war nur noch höflich, mehr nicht.
Niemand würde ihm helfen. Schon seit Wochen hatte er von seinen sogenannten Freunden kein Wort mehr gehört. Harry schüttelte den Kopf.
Doch, einmal hatte ihn Ron sogar geschrieben. Doch der Inhalt des Briefes war sehr kurz angebunden gewesen. Es schien so, als hätte er niemanden mehr auf dieser Welt, der ihm beistehen wollte.
„Oh Harry, mein Lieber, ich habe noch eine Sirup Torte im Ofen. Die magst du doch so gerne. Weißt du, es ist schön, ein bisschen junges Leben im Haus zu haben. Warte, ich hole dir zum Tee ein Stückchen."
„Wie gütig von Ihnen", murmelte er und schob seine Gedanken zur Seite, während er gelangweilt einen Zettelhaufen durchblätterte. Er blickte der alten Dame nach, während diese in Richtung der Küche davon trottete, und machte sich wieder an die Arbeit. Harry war derart in den zerknitterten Papieren versunken, dass er nur flüchtig aufblickte, als die alte Dame wieder das Zimmer betrat.
„Komm, mein Lieber. Mach mal eine Pause."
„Ja, natürlich", sagte er höflich und legte den verblichenen Papierstapel auf den Tisch zurück. Der Tee war golden, heiß und duftete herrlich, als er aufgegossen wurde. Kleine Blattstückchen wirbelten in der Flüssigkeit umher.
„Mhmm, herrlich", sagte der junge Zauberer und stellte die Tasse ab.
„Ich habe schon lange nicht mehr so einen vorzüglichen Tee getrunken."

– Du bist so ein Lügner, Harry.–

Die alte Dame strahlte, weil ihr Tee ihm solch eine Freude machte. Und wahrlich, Mrs. Figg hatte sich sichtlich Mühe gegeben. Auf dem Teeuntersetzer lagen handgeklöppelte Spitzendeckchen und es gab frische Sahne zu dem Tee.
„Der war auch wirklich schwer zu bekommen, mein Lieber. Bei dieser Sorte fallen die Teeblätter nicht so schnell auseinander. Beim Earl Grey fallen die Blätter derart schnell auseinander, dass es kaum möglich ist, sie zu lesen."
„Oh, Sie lesen auch aus dem Teesatz?", fragte Harry leicht belustigt und dachte an sein drittes Jahr zurück. Nichts konnte weiter von dem Bild entfernt sein, das man im Allgemeinen von Trelawney hatte, als die gutmütige Mrs. Figg mit ihrer grauen Dauerwelle. Ein Schluck Tee lief ihm durch den Hals. Gewiss würde sie ihm den Tod voraussagen. Auch, wenn er sich diesen mittlerweile insgeheim wünschte.
„Oh, gewiss doch, mein Lieber. Genauso wie ich es von meiner Großmutter gelernt habe und sie von ihrer Großmutter zuvor. Trink aus, dann schaue ich, was wir da haben."
Seufzend ergab sich Harry seinem Schicksal, trank die Tasse leer und schob sie zu der ergrauten Dame hinüber. Erst dann widmete er sich der Torte. Mrs. Figg blieb lange still. Hin und wieder hielt sie die Tasse schräg, um das Licht einzufangen, oder sie drehte sie in ihren schmalen Händen, um sie aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Schließlich stellte sie die Tasse so vorsichtig hin, als hätte sie Angst, dass sie ihr um die Ohren fliegen könnte.
„Lassen Sie mich raten. Sie haben den Grimm gesehen", seufzte Harry theatralisch und schob sich ein Stück Torte in den Mund und betrachtete die alte Dame. Die Falten in ihren Mundwinkeln hatten sich vertieft und ihre Augenbrauen zogen sich zu einer Miene zusammen, die Verwunderung auszudrücken schienen.
„Nein? Lassen Sie mich weiterraten. Werde ich meine Seele verlieren? Vielleicht an den Morgenstern?"
Stille breitete sich aus.
„Taja, Harry", sagte die alte Dame endlich. „Etwas so Seltsames ist mir noch nie untergekommen."
„Oh? Warum kommt mir das nur schrecklich bekannt vor."
Der junge Zauberer war noch immer belustigt, wurde aber langsam neugierig. Sein ironischer Ton war der alten Dame nicht entgangen.
„Harry, deine gesamte Tasse ist widersprüchlich. Zwei abgeknickte Blätter kreuzen sich, das bedeutet, dass man sich verändert. Über die beiden abgeknickten Blättern verweilen zwei weitere geschwungene Blätter. Zwei Personen werden in deinem Leben noch eine gewaltige Rolle spielen. Und einer davon, wird ..."
„Einer wird was?"
Harrys Belustigung schwand allmählich. Er gab nicht viel auf Wahrsagerei.
„Kindchen, lass mich mal deine Hand sehen. Vielleicht werde ich aus deinen Handlinien schlau."
Die Hand, die die seine hielt, war knochig und überraschend warm. Die alte Dame betrachtete seine Handfläche lange. Hin und wieder zeichnete sie eine der Linien mit den Fingern nach, so als folge sie einer Landkarte, deren Straßen sich allesamt in einer einsamen Wüste verliefen.
„Also, Madame Figg, was ist mit meinen Handlinien?", fragte er und versuchte, so unbeschwert wie nur irgendwie möglich zu klingen.
„Oder ist mein Schicksal zu grausig, um es zu enthüllen?"
„Schicksal", schnaubte die alte Dame leise. „In deiner Hand liegt doch nicht dein Schicksal. Nur eine vage Andeutung. Ein kleiner Samen."
Harry unterdrückte den Drang, die Hand fortzuziehen, ballte sie aber unbewusst zu einer Faust zusammen.
„Die Handlinien sagen eher, wer du bist."
Lächelnd tätschelte sie die zusammengeballte Faust.
„Deine Hand zeigt außergewöhnlich viele Veränderungen für so einen jungen Menschen. Nun, das liegt wohl an „du weißt schon wer" und den anderen Herausforderungen, die du bist jetzt meistern musstest."
„Nun, ich könnte nicht behaupten, dass mein Leben bis jetzt langweilig gewesen wäre."
Der Gryffindor wollte nicht unhöflich klingen, aber die Art, wie die alte Frau ihn unter die Lupe nahm, machte ihn nervös. Und trotzdem wurde er neugierig, öffnete wieder die Hand und Mrs. Figg beugte sich noch einmal über seine Handfläche. Hin und wieder stieß sie mit ihrem Zeigefinger zu, um ihre Worte zu unterstreichen. „Also, Harry, du hast eine ausgeprägte Lebenslinie, die aber unterbrochen ist. Das bedeutet, dass sich dein Leben drastisch verändern wird.
Und... die Ehelinie, nun... sie ist... zweigeteilt, aber auch gleichzeitig miteinander verbunden. Es könnte auf eine mögliche Triade hindeuten.
Der Bursche zuckte zurück,
Seine Bewegung war nur schwach und er unterdrückte sie auch sofort, aber selbst das entging der alten Frau nicht. Der grauhaarige Kopf schüttelte sich beruhigend.
„Keine Sorge, es ist nur ein mögliches Bild. Aber bitte, wer hat denn schon das unverschämte Glück auf eine Triade?"
Sie stieß ein überraschend tiefes, anzügliches Glucksen aus und Harry errötete sogar schwach. Dann linste sie schwach auf seine Handfläche und fuhr mit dem Fingernagel sanft über die tiefe Ehelinie.
„Ich bestimmt nicht."
Sie stöhnte auf wie eine Heimgesuchte des Alten Testaments und ließ sich zurück in den großen Ohrensessel sinken.
„Oh, Harry."
Sie wies mit einer Handbewegung auf das mit überquellenden Kartons und endlosen Bücherstapeln vollgestopfte Zimmer.
„Die Teeblätter lügen nie."
Wie Recht die alte Mrs. Figg mit ihren Worten noch haben würde, wusste der junge Zauberer noch nicht.

Three souls - one fate Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt