Mrs. Figg

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Harry ging zurück in das vollgestopfte Studierzimmer und sah Mrs. Figg mit einem Pergamentstapel voller Notizen im großen Ohrensessel sitzen. Der Kneazle Mr. Tibbles hatte es sich auf den Sekretär bequem gemacht und schnurrte leise.
Schweigend überblickte er das Chaos und blinzelte die blasse Blümchentapete an. Auch wenn er es nicht zugeben wollte, aber er hatte dann doch Freude daran gehabt, die Wälzer, kleinen Parfumflaschen und verstaubten Kisten zu durchstöbern.  Harry drehte den Kopf und sah die alte Dame an.
„Madame, ist alles in Ordnung?"
Mrs. Figg starrte blicklos auf die Pergamente hinab und runzelte die Stirn. Dann stand sie auf, rollte die vergilbten Ausschnitte auseinander und breitete sie neben den Teeservice aus, wo sie sie mit den Handflächen festhielt. Ein Gefühl von zunehmender Verblüffung ergriff den jungen Zauberer, als er sah, wie sie sich mit einem übertriebenen Stirnrunzeln der Konzentration den Kopf tiefer über den fleckigen Text beugte.
Es war zu dunkel, um die Worte des Zettels zu lesen, doch Harry erkannte das Pergament. Daran hatte er sich vorhin noch geschnitten. Der Gryffindor seufzte seinerseits tief, schloss kurz die Augen und sprach ein kurzes Dankgebet an, weil er noch einmal dem vorherigen Gespräch davongekommen war.
Mrs. Figg war verdammt hartnäckig, wenn sie jemandem auf den Fersen war. Niemals dürfte Dumbeldore von seiner Veränderung Wind bekommen.
Obwohl, den alten Sack würde es sowieso nicht interessieren. Vielleicht würde er seine Probleme wieder an Snape abwälzen und sich so aus der Affäre ziehen. So, wie er es doch immer tat.
Während der Bursche sich noch fragte, wie viel er in seinem Leben tatsächlich mitzureden hatte, öffnete Harry die Augen und beobachtete die alte Frau, die Kerzengerade dastand.
Diese hatte sich nun eine schwarze Haarnadel aus der ergrauten Dauerwelle gezogen, pikste sich damit energisch in den Zeigefinger und ließ ein paar Blutstropfen auf das vergilbte Pergament fallen.
Was ihm eigentlich wie ein absolut langweiliger Tag erschienen war, legte jetzt eine wirklich spannende Wendungen dar.
Vielleicht sollte er sich mit dem seltsamen Verhalten der alten Dame nicht länger beschäftigen, doch es ließ ihn keine Ruhe.
„Oh, ich kann es kaum glauben", flüsterte sie und riss ihn aus den Gedanken.
„Das sind doch tatsächlich...."
Von ihren Erinnerungen gerührt, hob Mrs. Figg den Arm und drückte Harry die Hand.
„Komm, mein Lieber. Komm und sieh dir das an." Neugierig blätterte er die gereichten Ausschnitte durch.
Die Überschrift lautete.

SQUIB ZURÜCK VON DEN TOTEN ~

Harry begann von vorn und las nun alles mit größter Sorgfalt. Das Pergament, das er vorhin nicht hatte lesen können, hatte seine Textur verändert, und war zu einem alten Zeitungsartikel geworden. Der Tagesprophet hatte die Geschichte zwar wie immer sensationell aufgebläht, doch die Fakten waren spärlich und schwer zu sichten.

Mrs. Elisabeth Figg, die Ehefrau des prominenten Zauberers. William. F. Figg, war im späten Sommer 1860 auf einer Hochzeit verschwunden. Zwar hatte man Spuren von ihr gefunden und es wurden Nachforschungen angestellt, doch die Frau blieb spurlos verschwunden. 1880 war Elisabeth Figg zurückkehrt. Desorientiert und voller Gram erfühlt, hatte man sie in der Nähe der Stelle gefunden, an der sie verschwunden war.

„Das waren meine Eltern, Harry", schniefte die alte Frau. „Die beiden haben schon ein kurioses Paar abgegeben. Ein reinblütiger Zauberer und eine Squib, welch ein Skandal das doch war."
Die Lippen des jungen Zauberers zuckten.
Das war wirklich ein Skandal.
Neugierig betrachtete er die beiliegenden Fotos und strich mit dem Daumen darüber.
William Figg war ein schlanker, attraktiver Mann von aristokratischem Aussehen gewesen, die sich in seiner Körperhaltung deutlich widerspiegelte. Bestimmt war er ein Slytherin.
Der Schönling stand direkt neben einer kleinen, zierlichen Frau, die klar ersichtlich einen Ring am Finger trug, der einen makellosen Topas eingefasst hatte. Harry stand der Mund offen, als ihm die verwegene Eleganz ins Auge stach. Die Augen des Gryffindors folgten der Kontur des langen, schmalen Kinns und der Rundungen des Schädels. Er hatte nicht geahnt, dass der Vater von Mrs. Figg von solch einer Schönheit gewesen war.
„Man erzählt sich, dass meine Mutter eine völlig andere Person war, als sie zurückkehrt ist. Sie war eine Zeit lang völlig konfus, orientierungslos und ... wollte diesen verdammten Ring nicht ablegen und hat ständig in einem Buch mit roten Einband gelesen.Und doch war sie so glücklich wie noch nie zuvor."
Mrs. Figg seufzte schwer.
„Ihr Tod war so unerwartet. Den ganzen Tag ging es ihr gut, dann hat sie nach dem Abendessen gesagt, sie wäre müde und würde zu Bett gehen."
Sie zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen.
„Sie ist eingeschlafen und nie wieder aufgewacht. Das Seltsame war, dass der Ring, den sie niemals ablegen wollte, sich nicht mehr bei ihr befunden hat, als Vater sie am nächsten Tag aufgefunden hat. Auch der schwere Wälzer mit dem roten Einband war verschwunden."
Harry nickte beiläufig um Interesse zu zeigen.
„Der Bruder meines Vaters nahm mich dann die Woche darauf nach Mutters Tod auf. Denn keine zwei Tage darauf starb auch mein Vater. An mysteriösen Umständen. Und ... George war nicht besonders erfreut darüber, dass er mich plötzlich am Hals gehabt hat. Er hat den Besitz meiner Eltern verflüssigt und mich danach in ein anständiges Mädcheninternat gesteckt."
Mrs. Figg lächelte. Dann schüttelte sie den ergrauten Kopf und wandte sich wieder dem Zauberer zu.
„Doch genug von meiner Vergangenheit. Harry, ich möchte, dass du Mutters Ring bekommst. Die Einen sagen, er sei verzaubert, die anderen, er sei verflucht. Aber ich glaube nicht daran. Er hat meiner Mutter viel Glück gebracht. Du hast etwas Glück im Leben verdient."
Der Bursche schüttelte den Kopf.
„Madame, das ist ein Erbstück Ihrer Mutter. Das kann ich nicht annehmen", protestierte er leise. „Ich bestehe darauf. Und jetzt keine Wiederrede mehr. Du bist so ein lieber Junge. Und der Ring würde dir außerordentlich gut stehen. Topas und Smaragdgrün harmonieren wunderbar.
Sieh es als ein verführtes Geburtstagsgeschenk an dich."
Er war etwas überrascht, dass es ihr so wichtig war,  doch er gab sich geschlagen. Mit dieser rüstigen alten Dame zu diskutieren, kam dem Ende gleich, so aussichtslos war es. Und der Ring war ihm schon vorhin ins Auge gestochen. Der Gryffindor hatte in seinem Leben noch keinen Schmuck besessen. Seit seines Heranwachsens war er nur an eine spartanische Lebensweise gewöhnt. Das wäre hiermit sein allererstes Schmuckstück und gleichzeitig ein tröstliches Geburtstagsgeschenk.
„Äh, vielen Dank, Madame", entfuhr es den jungen Löwen. Er entzog ihr die Hand und ergriff den hübschen Ring. Ein obskures Gefühl ergriff ihn, als er den Ring zwischen den Fingern umherwandern ließ. Es fühlte sich so an, als hätte ihm jemand eine kühle Flüssigkeit in die Venen gespritzt.
„Vielen, vielen Dank für dieses Geschenk, Mrs. Figg. Ich werde das Schmuckstück Ihrer Mutter in Ehren halten."
Harry, der ihren Blick sorgfältig auswich, schielte zu der Flasche Feuerwhisky hinüber, während er sich das Schmuckstück auf den Ringfinger schob. „Noch etwas. Du brauchst keine Angst zu haben, Harry", sagte die alte Frau leise.
„Ich werde niemandem von deinem ... Hobby erzählen."
Sie ergriff kurz seinen Oberarm, ließ ihn dann aber doch los und wandte sich dem Fenster zu. Erst als die Spannung aus seinen Schultern wich, fiel ihm überhaupt auf, dass sie da gewesen war. „Du brauchst jetzt etwas Warmes, mein Lieber", sprach Mrs. Figg ruhig.
„Etwas im Magen ist das Beste für dich. Du bist erschreckend dünn geworden."
Er lachte über ihre Versuche, ihn aufzuheitern, und ging mit ihr in die winzige, Rosen gemusterte Küche, um ihr zu helfen.
Die alte Dame hatte Recht, das Essen half. Kameradschaftlich schweigend machten sie ihrer Suppe den Garaus, aßen dazu lockeres Brot und teilten das zunehmende Wohlgefühl der Wärme und der Sättigung. Als die Zeit des Abschiedes gekommen war, wandte sich nach einer höflichen Verabschiedung zum Gehen und wollte gerade durch den Eingangsflur verschwinden, doch Mrs. Figg legte ihm ihre knochige Hand auf den Arm, um ihn aufzuhalten, und betätschelte sein wildes Haar. „m
„Großer Gott, Harry, so kannst du doch nicht unter die Leute gehen! Augenblick, ich mach das. Mein Onkel George sah auch immer aus wie Kraut und Rüben. So. Das ist besser."
Der Gryffindor brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass seine Haare in wenigen Minuten wieder ihr eigenes Eigenleben entwickeln würden. Ihren strikt ondulierten Wellen konnte man diese eigenartigen Perversitäten nicht nachsagen.
Harry huschte zur Tür hinaus und machte sich auf den Weg zurück zu den Dursleys, bevor die alte Madame weitere Defekte an seiner durchaus undisziplinierten Erscheinung ausmachen könnte. Eigentlich wollte der Gryffindor noch nicht nachhause. Doch der tobende Sturm, der noch immer wütete, zwang ihn dazu. So machte er sich auf den kürzesten Weg in das so verhasste Haus.
Er wurde bereits erwartet.

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