Prolog

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Pennsylvania

Kinderheim Sellingham12 Jahre zuvor


Vivienne



Eine weitere Minute verstreicht, in der ich vor mir her vegetierte, nachdem Miss Timothy mich geschlagen und dann in dieses Loch von Zimmer gesperrt hat, damit ich meine Manieren wiederfinden kann. Die alte Schachtel glaubt wirklich, dass ich davon welche besitze, doch sie liegt falsch. Vor allem, da sie einen ziemlich verqueren Eindruck von den richtigen Manieren hat.

Ich wusste schon immer, dass hier etwas vor sich geht, wovon niemand etwas zu wissen scheint, niemand etwas dazu äußern darf. Etwas Gefährliches, etwas Unorthodoxes. Niemand wagt es, die Augen darauf zu richten, doch ich sehe es jeden Tag vor mir. Höre die Stimme von Miss Timothy, die mich dazu drängt, schön zu sein, mich durch Manieren und meine Eleganz anzupreisen, mich mit den jungen Männern zu unterhalten, die uns an einigen Abenden einen Besuch abstatten.

Ich weiß genau, was hier vor sich geht. Dass die Mädchen und Jungen, die nicht geeignet sind, eine Familie zu finden, anderweitig verkauft werden. Niemand von uns ist länger als drei oder vier Jahre hier. Denn wenn wir noch jung sind, können wir für den höchsten Preis verkauft werden. Mit unseren unschuldigen Körpern treiben wir das Geld ein, das sich Miss Timothy direkt in ihren eigenen Arsch steckt. Und niemand scheint sich daran zu stören oder nur den Mund aufmachen zu wollen.

Außer mir.

Ich sehe die Dunkelheit hinter diesen Türen, das freudlose Lachen der Mädchen, wenn sie wieder einen Abend mit den Männern verbringen müssen. Manche von ihnen bleiben die ganze Nacht, und dann höre ich das Flehen. Kann das Stöhnen der Männer durch die Wände hören, das Schreien der Mädchen. Am nächsten Tag scheint alles normal, ein Kinderheim für Verwahrloste und Waisen, die niemand haben will.

Weil ich eine vorlaute Göre bin, hänge ich in diesem kleinen Zimmer fest. Hier gibt es nichts, außer einer alten, abgestandenen Matratze und dunklen Vorhängen, die das kleine Fenster bedecken. Es herrscht eisige Stille, und ich weiß, dass Miss Timothy mich erst am Abend herauslassen wird, um erneut zu behaupten, ich hätte es nicht anders verdient. Dass ich mich fügen sollte, mein Schicksal akzeptieren müsste, da mich nie jemand adoptieren würde.

Nicht so wie meine Schwester.

Miss Timothy hat Josephine geliebt. Sie war die Schönste von allen Mädchen, höflich und zuvorkommend, ein Prachtexemplar von einem Kind. Weshalb sie vor drei Jahren von einem reichen Paar adoptiert worden ist. Mich wollten sie nicht. Nicht, obwohl Jo gefleht hat, mich mitnehmen zu dürfen. Nicht, weil das Paar nur ein einziges Kind haben wollte. Nicht, weil ich nun einmal ungehobelt, vorlaut und streitsüchtig war.

Daran hat sich seit diesem Tag nichts geändert. Wenn, dann ist es nur noch schlimmer geworden. Seitdem meine Schwester fort ist, kämpfe ich für mich allein. Ich beschütze mich selbst und schaffe es, mich nicht zu sehr an eines der Mädchen oder Jungen zu gewöhnen. Sie können sich nicht mal meinen Namen merken, da sind die meisten schon wieder verschwunden. Ob adoptiert oder verkauft spielt dabei keine Rolle.

Jedoch sind die Jahre bereits ins Land gezogen, und nun bin ich 15. Für Miss Timothy gibt es keinen Grund mehr, mich länger zu schonen. Ich bin alt genug, um Geld mit meinem Körper zu verdienen. Und dieses Miststück liebt es, Geld in ihren Händen zu halten. Deswegen hat sie jede Woche eine neue Frisur, jedes Mal neue Kleider und Schuhe. Deswegen strahlt sie über das ganze Gesicht, sobald ihr ein neues Kind anvertraut wird.

Diese Frau sollte dafür bestraft werden. Ihr sollten die Haare vom Kopf geschnitten und die Kleider vom Leib gerissen werden. Und am Ende sollte sie ebenfalls von einem schmierigen Speichellecker misshandelt und gefickt werden.

Ich reibe mir den Schmutz aus meinem Gesicht und lehne den Kopf an die Wand in meinem Rücken. Vorsichtig schließe ich die Augen, meine Ohren wachsam auf die Stille um mich herum gerichtet.

Wieso, verdammt, ist Jo nicht hier.

Meine Schwester müsste hier bei mir sein, mich unterstützen, mich beschützen! Doch sie ist weit entfernt, lebt ihr perfektes Leben irgendwo in New York, und wahrscheinlich hat sie mich schon längst vergessen. Wie sollte es auch anders sein, wenn nach drei Jahren nicht ein einziger Brief von ihr angekommen ist.

Sie hat mich einfach vergessen. Ihre Vergangenheit hinter sich gelassen und weitergemacht. Ohne mich. Weil sie die Mittel dazu hat. Weil sie nicht in einem Loch wie diesem festsitzt und jeden Tag damit rechnen muss, verprügelt oder verkauft zu werden.

Ich kann nicht einmal sagen, ob ich sie vermisse oder hasse. Würde Josephine jetzt durch diese Tür marschieren, würde ich sie in die Arme schließen oder zum Teufel wünschen?

Ich weiß es nicht!

Diese Erinnerung an eine große Schwester ist so weit entfernt, dass es sich wie ein Traum anfühlt. Eine Einbildung, die mein Geist mir vorspielt, um mich am Leben zu erhalten. Und ich weiß, dass ich am Leben bleiben will.

Ganz sicher will ich nicht noch weitere drei Jahre warten, bis ich von hier verschwinden kann. Bis ich einen Job annehmen oder eine Wohnung finden kann. Ich will ganz sicher nicht in Pennsylvania bleiben, und ganz sicher will ich mich nicht an den Höchstbietenden verschachern lassen. Ich bin ein Mensch, kein Gegenstand, den irgendein Perverser in Besitz nehmen kann. Nur, weil ich ein Mädchen bin, heißt das nicht, dass mein Körper zum Kauf angeboten werden kann.

Ich bin mehr als das!

Und das darf ich mir nicht nur selbst weismachen, das muss auch jeder andere endlich begreifen. Miss Timothy wird die Erste sein, die davon ein Stück zu sehen bekommt. Diese Frau hat es nicht anders verdient. Sie soll sehen, wie ihr das Geld durch die Finger gleitet, wie sie alles verliert, was ihr so unverschämt wichtig ist. Alles, was ich dafür brauche, ist ein ausgeklügelter Plan. Ein Schlupfloch, das sie nicht vorhersehen kann.

Einen Fluchtweg aus dieser Hölle.

Und wer wäre ich, wenn ich nicht schon längst eine Idee hätte.

Dieser Tag, verprügelt und eingesperrt in diesem Zimmer, hat doch noch etwas Gutes an sich. Ich habe Zeit, meinen Plan auszuarbeiten und mich mental darauf vorzubereiten, von hier zu verschwinden. Ich allein werde mir mein Leben zurückholen, meine Freiheit ergreifen.

Und wenn ich die Hölle zum Einstürzen bringe, sie heller brennen lasse als jemals zuvor, wird jeder mit mir untergehen, der es nicht anders verdient hat.

Miss Timothy wird als Erste brennen.

Und nach ihr die gesamte Welt.

Don't fall with the AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt