Kapitel 54

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Eine Schwangerschaft ist anstrengend. Aber im Sommer hochschwanger zu sein, ist ein Leistungssport. Ich kann nicht mehr. Ich habe mich sogar vor meinem eigenen Geschlechtsorgan erschrocken, als ich mich auf dem Badezimmerboden gewachst habe. Dass man während der Schwangerschaft anschwillt, war mir bewusst, aber auch da unten? Man hätte mich vorwarnen können. Was meine Beziehung zu Miran angeht, ist es ein Auf und Ab. Mal habe ich Heißhunger auf ihn und in der nächsten Minute kann ich ihn nicht mehr sehen. Dann wird mir alles zu viel, sein Hemd ist meiner Ansicht nach zu zerknittert, unsere Kopfkissen sind nicht adäquat platziert und dann liege ich doch verzweifelt in seinen Armen, weil ich nicht mehr kann. Womit er definitiv recht hatte, war das Anschaffen einer temporären Assistenz. Ich schaffe es nicht mehr. Letztens bin ich auf der Toilettenschüssel eingeschlafen, weil ich nach dem Wischen der Spiegel so erschöpft war. Zu meiner Verteidigung muss ich hinzufügen, dass unsere Tochter auf meine Blase drückt und ich deshalb mehrfach ins Bad muss, nur um am Ende keinen Tropfen herauszubekommen. Das Ganze hin und her macht mich müde und ... na ja, da kann es schonmal vorkommen, dass man während des versuchten Urinierens einschläft, wenn man an dem Tag auch die Spiegel wischt.

Miran beweist sich jetzt schon als großartiger Vater. Wir gehen regelmäßig zum Kurs für Eltern und Geburtsvorbereitung, bei denen ich auch manchmal einschlafe, weil mich die Atemübungen und sein kuscheliger Oberkörper stets beruhigen. Etwas, wovon nichts mehr in Sicht ist. Ich habe Schmerzen, kann kaum schlafen und übergebe mich aus dem Nichts. Meistens ist es nur Wasser, weil ich überhaupt keinen Appetit habe. Wenigstens wird dadurch Mirans Auto und mehrfaches Opfer meiner Kotzattacken vor zerkautem Essen bewahrt. Gerade befindet er sich auf der Arbeit, während ich in meinem Hauskleid auf unserem Ehebett liege. Wenn alles gut läuft, schaffe ich es heute, etwas zu kochen. Vielleicht sollte ich mich jetzt schon an das Vorbereiten machen, denn ich bin extrem langsam geworden. Immerhin haben wir schon Nachmittag.

Für mich geht es nach unten in unsere Küche ... oder doch ins Badezimmer. Ich schaue verwirrt an mir herunter, um mich zu vergewissern, ob ich wirklich nass bin. Ja, bin ich ... Moment mal. Ich bin untenherum nass. Es tropft. Oh mein Gott. "Miran", murmele ich. Er ist noch auf der Arbeit. Ohne ihn bin ich plötzlich orientierungslos. Mir geht es gut, aber ich stehe in einer kleinen Pfütze. Das war vor wenigen Sekunden noch meine Fruchtblase. Ich habe nicht einmal meine Kliniktasche hier, weil Miran alles schon provisorisch in sein Auto gepackt hat. Na toll. Ich latsche unruhig zu Toto, um zur Firma zu fahren. Hätte ich wenigstens Orangensaft mitgenommen. Zum Glück herrscht noch kein Feierabendverkehr, ansonsten wäre die Wahrscheinlichkeit vorhanden, dass ich unsere Tochter im Auto gebäre, aber ich habe es geschafft! Ich parke vor dem Eingang und latsche in nasser Jogginghose an Yasmin vorbei, die mich erkennt und sofort Salzstangen hochhält. Die kann ich sehr gut gebrauchen. "Danke", murmele ich unruhig. Noch habe ich keine Schmerzen. Alles ist gut. Die Aufzüge sind alle leer, also bin ich innerhalb einer Minute nach langem wieder auf der 20. Etage.

Narin zieht verwundert ihre Augenbrauen zusammen, als sie über ihre Theke schaut, damit sie schauen kann, wer um diese Uhrzeit in der Chefetage ist. Narins Brauen schießen überrascht in die Höhe, als sie realisiert, dass es ihre Schwägerin ist. "Wo ist Miran?", frage ich unruhig. "In einem Meeting." Okay, dann muss ich ihn da herauszerren. "Raum 10B?" "Ja, aber es ist ein sehr wichtiges Meeting mit neuen Kooperationspartnern." Mir egal, unser Kind kommt heute. Ich steuere mit rasendem Herzen auf den Raum zu, ohne anzuklopfen und mit nasser Jogginghose inmitten der Besprechung hineinzuplatzen. Alle Anzugträger drehen sich verwundert zu mir. Miran wirkt kein Stück besser. Er ist sichtlich verwirrt. "Krankenhaus", gebe ich einsilbig von mir. "Meine Fruchtblase ist geplatzt." Unter den Geschäftsmännern beginnt das verständnisvolle Murmeln, während Mirans Augen sich weiten und er seine PowerPoint sofort beendet. "Verehrte Herren, wir müssen unser Vorhaben leider verschieben." "Kein Problem. Herzlichen Glückwunsch", lächelt ein älterer Herr, der mich erfreut anlächelt. Ich erwidere es nur angespannt, denn langsam setzen die Wehen ein.

Miran legt seine Hand auf meinen unteren Rücken und drückt mich eilig zurück in den Flur, wo wir wieder auf Narin treffen, die immer noch verwirrt ist. "Leg einen neuen Termin für das Meeting fest. Wir müssen ins Krankenhaus." "Kommt das Kind?!", springt Narin von ihrem Arbeitsplatz. Ich nicke nur lächelnd, wenn auch sichtlich überfordert und angespannt. "Oh Gott", murmele ich in der Kabine. Die Schmerzen werden langsam immer doller. "Wann ist deine Fruchtblase geplatzt?" "Vor vielleicht einer viertel Stunde vielleicht. Langsam schmerzt es." Und wie es schmerzt. Ich kneife angestrengt meine Augen zusammen. "Hast du etwas gegessen?" Die Frage beantworte ich kopfschüttelnd. Ich habe keinen Hunger und der Gedanke ans Essen reicht, um mir Übelkeit zu bereichern. "Mach deine Sitzheizung an." Ich stürme vor ihm aus dem Aufzug an allen Kollegen vorbei, der verwundert über mein Aussehen sind ... und vielleicht über meine nasse, graue Jogginghose.

Als ich Toto vom weiten sehe, bin ich überfordert. Ich habe mein Auto völlig vergessen. Was mache ich jetzt? "Mach dir keine Gedanken um Toto. Keiner schleppt ihn ab", vergewissert Miran mir. Okay ... dann eben ohne Toto ins Krankenhaus. Miran hilft mir noch schnell auf den Beifahrersitz, wo die richtigen Schmerzen anfangen. Oh mein Gott. Ich hätte mich niemals setzen dürfen. Meine Finger bewegen sich hektisch zu den Sitzeinstellungen, damit ich die Lehne so weit wie möglich nach hinten verschieben und mich hinlegen kann, nur bringt das auch kaum etwas. "Miran", flehe ich. "Was hast du getan?" "Du wolltest ein Baby! Hätte ich mich weiterhin geweigert, hättest du mein Büro in die Luft gejagt." "Das darf ich auch!", schreie ich. Gott, was sind das für Schmerzen? Ich habe sonst alles ausgehalten, selbst zu heißes Wachs im Intimbereich. Ich rolle mich stöhnend auf alle viere und biege meinen Rücken durch, der ebenso von Schmerzen besetzt ist.

Die Minuten vergehen wie Stunden, bis ich endlich aussteigen und eingeleitet werden kann. Ich drücke Miran frustriert von mir, als ich in die warme Wanne steigen darf. "Holt dieses Kind aus mir", flüstere ich geschwächt. "Wir kümmern uns darum, Shirin. Keine Sorge", versichert meine Hebamme mir. Miran stellt sich besorgt vor mich und fährt meine Haare zurück, die aus meinem Zopf herausschauen. "Ich halte das nicht mehr aus." Aber was ist, wenn es doch länger dauert? Was ist, wenn ich das noch weitere Stunden oder gar Tage aushalten muss? Mir kommt ein sehr starker Hickser über die Lippen, woraufhin es hinter mir still wird. "Wow, das ging aber schnell", höre ich meine Hebamme sagen. "Was denn?", murmele ich müde. "Dein Schluckauf hat eine Menge Kraft. Noch einmal tief pressen und schon ist die Maus da." Schon?! Ich schaue verwirrt zu Miran, der mich mit großen Augen ansieht und dann langsam zu schmunzeln beginnt. "Ich habe mich gerade noch darüber gewundert, dass du beunruhigend lang keinen Schluckauf mehr hattest." Ich dachte, das wäre meine Verdauung, aber das war scheinbar meine Tochter. "Atme tief ein und dann pressen, Shirin", bittet Miran mich. Er hält mein Gesicht an meinen Wangen fest und zieht mich an seine Stirn, um gemeinsam mit mir einzuatmen.

"Noch einmal, Shirin. Wir haben es gleich", bittet meine Hebamme. Ich atme tief ein und mit Miran gleichzeitig aus, nur unterbricht mich mein Hickser, woraufhin ich untenherum eine unbeschreibliche Erleichterung spüre und deshalb erleichtert stöhne. "Sie ist da", flüstert Miran. Ich lächele müde, unwissend, wie viel Zeit vergangen ist. Er hilft mir, mich langsam umzudrehen und mich ins Wasser zu setzen, während meine Hebamme, deren Namen ich längst vergessen habe, meine Tochter langsam auf dem Wasser wiegt. Ich schaue weg, als ich das Blut und die Fruchtschmiere auf ihrem kleinen Gesicht sehe. Das habe ich völlig vergessen. "Ich kümmere mich darum. Nicht ohnmächtig werden", murmelt Miran an meine Schläfe, die er küsst. Ich brauche Avocados und Sushi.

Und mein Wunsch wird von Miran erfüllt, als wir ins Elternzimmer gebracht werden. Meine Tochter liegt schlafend auf Mirans freier Brust, während ich meine riesige Platte verzehre. Kaum war ich fertig mit der Nachgeburt, hatte ich das Verlangen, ein ganzes Buffet auszurauben. Ich war plötzlich derart ausgehungert, dass mir alles andere egal war. Ich überlege es mir noch einmal mit den vier Kindern. Wenn mir die Augen zugebunden werden, damit ich das Blut nicht sehen muss, können wir es arrangieren. Aber erst werde ich mich erholen, von Miran all meine Geburtsgeschenke erhalten und wenn es so weit ist, gemeinsam in den Urlaub mit unserer Tochter. "Sie wacht auf." Mein Blick gleitet zu unserer hübschen Tochter, die einen leeren Punkt in der Ecke betrachtet. Im Übrigen hatte ich recht: Die ganzen Zwiebeln haben dafür gesorgt, dass sie blaue Augen bekommt. Und ich weiß, dass sie auch bleiben werden. Sie wird auch meine Locken bekommen. "Hast du schon einen Namen für sie?", fragt Miran mich. "Nein, du?" Obwohl ich mehrere Monate Zeit hatte, war keiner passend genug für mich. Sein wissendes Lächeln sagt mir jedoch, dass er einen Namen hat.

"Daliya."

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E N D E

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Tollpatschige LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt