Frau Smith dreht sich zu mir um und erschreckt kurz aufgrund unserer minimalen Distanz, geht jedoch keinen Schritt zurück. Es ist so still, dass ich sie atmen höre. „Ich bin am Samstagabend ausgeflippt als ich wieder daheim war." Ein Satz, der die gesamte Atmosphäre kippt und mich zurück in die Realität holt. Es kostet mich immense Kraft, nun einen vernünftigen Gedanken zu fassen und auf ihre Aussage einzugehen: „Wie? Wieso?" Zu mehr bin ich gerade nicht in der Lage und sehe dabei zu, wie mein Gegenüber nun doch ein paar Schritte zurückgeht. „Tomas hat mir eine Szene gemacht, weil ich mich trotz meiner eigenen Probleme mit deinen auseinandersetze und sogar die Grenze zur Privatsphäre überschritten habe. Er hat mich mit seinen Worten so unheimlich wütend gemacht, dass ich ausgerastet bin. Aber ich konnte nicht anders, weil mir deine Gesundheit am Herzen liegt.", erläutert sie ihre Aussage. Durch meinen Körper jagen die verschiedensten Emotionen und machen mich vorerst sprachlos, ehe ich auf ihre Ehrlichkeit eingehe: „Danke, aber wenn es Sie belastet, dann sollten Sie sich aus meinen Problemen raushalten. Ich werde ja sicherlich bald wieder in Therapie sein und bekomme die Hilfe, die ich benötige." „Ja, das weiß ich Amelia. Aber du warst es nicht, die mich belastet hat, sondern seine Worte und kein Therapeut der Welt kann dich so gut nachempfinden wie ich es tue. Ich habe das selbe erlebt, eventuell sogar schlimmeres und weiß ganz genau wie ich dir helfen kann." Wieder schafft sie es, mich sprachlos zu machen. Was soll ich dazu auch sagen? Sie hat natürlich recht, aber trotzdem bin ich nicht davon überzeugt, dass es spurlos an ihr vorbeigeht. Es wird Trigger geben, die sie eventuell unterschätzt und letztendlich aber doch zu ihrer eigenen Wut beitragen. „Amelia, du erinnerst mich an meine Zeit als junge Erwachsene und ich möchte verhindern, dass du anderen Menschen schadest, weil es dich am Ende trifft. Jeder Wutausbruch schadet dir selbst und wird eine therapeutische Behandlung erschweren. Also lass mich dir helfen." Ich nicke nur und schaue ihr schweigend in die grünen Augen, die mich auf Schritt und Tritt verfolgen. Jetzt wo sie mir von ihrer Belastung erzählt hat, scheinen ihre Augen wieder zu strahlen und ihre gesamte Art ist um einiges aufgeschlossener, was mein Herz erwärmt. Vielleicht brauchen wir uns auch einfach gegenseitig. Wir verstehen uns blind, wissen wie der andere fühlt und können einander vertrauen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Wie sollte man sich auch verurteilen, wenn man die Probleme des anderen von sich selbst kennt?
In der Mittagspause kommt Olivia zu mir und sucht uns ein ruhiges Eckchen, um über den vergangen Samstag zu reden, wobei ich dem nichts zufügen möchte. „Was läuft da zwischen der Smith und dir?" fragt sie direkt nach und scheint ein wenig eifersüchtig, was ich in dieser Situation mehr als nur lächerlich finde. Wer hat mir denn ihren Freund verheimlicht und mich mit den anderen zusammen auf eine Stufe gestellt? Ich habe Olivia immer alles als erstes erzählt, wenn nicht sogar als einzige. „Nichts. Wie ich dir schon erklärt habe, kann sie meine Probleme einfach gut nachempfinden und weiß mir zu helfen. Sie hat mich am Samstag nach Hause gefahren, weil ich nicht gerade wenig intus hatte und wieder zur Wut tendiert habe. Mehr aber auch nicht. Außerdem bin ich stark davon ausgegangen, dass wir uns nicht mehr alles erzählen.", entgegne ich trocken. „Wieso musst du da jetzt so ein Drama draus machen? Steve und ich haben gemeinsam entschieden, dass wir uns Zeit lassen und unseren Freunden erst später von uns erzählen." „Aber ich bin doch nicht einfach irgendeine Freundin... wir sind seit dem Kindergarten befreundet und haben uns geschworen, einander alles zu erzählen. Du weißt so viele Dinge über mich, die ich keiner Menschenseele erzählen könnte.", antworte ich ihr und sehe hinter ihr Frau Smith, die mich anscheinend sprechen möchte. Doch Olivia setzt erneut an: „Keiner Menschenseele hm? Das hat sich dieses Schuljahr schnell geändert.." Augenverdrehend schüttel ich den Kopf und setze zum gehen an: „Ich möchte jetzt nicht weiter streiten. Wir sehen uns." Ich lasse meine beste Freundin mit ihren Gedanken alleine und gehe auf meine Lehrerin zu, die mich freundlich anlächelt und ein „Hey" von sich gibt als ich vor ihr zum Stehen komme. „Was machst du heute Nachmittag?" Völlig perplex über diese Art von Frage, schaue ich sie an und antworte erst einige Sekunden später: „Bisher nichts." Sie stemmt ihre Hände in ihre Taille und lächelt noch ein bisschen breiter, wodurch sich mein Herzschlag sofort beschleunigt. „Dann würde ich dich gerne zum Kaffee bei mir einladen und ein bisschen quatschen. Was hältst du davon?" Erneut schaue ich sie perplex an und bin nicht nur überrascht, sondern gar geschockt über dieses Angebot. Hatte sie mir nicht heute Morgen noch erzählt, dass sie Streit mir ihrem Mann hatte, weil sie diese entscheidende Grenze zum privaten einfach überschritten hat? „Wir können uns auch in ein Café setzen, wenn du nicht nochmal mit zu mir kommen magst.", fügt sie noch hinzu. „Nein, das ist es nicht. Ich mache mir nur Gedanken um Ihren Mann beziehungsweise um ihre Beziehung zueinander. Es wäre mir unangenehm, wenn es wieder zu einem Streit oder ähnlichem kommt.", erkläre ich nun also. Die Gesichtszüge meines Gegenüber werden prompt weicher und ihre Hand streift kurz meinen Arm, was für ein elektrisierendes Gefühl in meinem Körper sorgt. „Tomas kann sagen und denken, was er möchte. Unsere Ehe sollte das standhalten, schließlich gehört sehr viel zu einer Beziehung wie wir sie führen. Dennoch bin ich eine unabhängige Frau und würde dich sowie deine Hintergründe gerne besser kennenlernen, um dir bestmöglich zu helfen. Außerdem könnte der Austausch auch mir guttun, da ich ebenfalls weiß, dass du mich nicht verurteilen würdest wie es andere Menschen machen beziehungsweise gemacht haben." Sie vertraut mir. Jedes einzelne Wort sorgt dafür, dass sich mein Herzschlag beschleunigt und ein Nein keine Option mehr ist. Zu sehr sehne ich mich nach der Nähe zu ihr.
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Unerreichbar nah / {txs}
RomanceEs gibt Menschen, die einem physisch nicht näher sein könnten, aber durch äußere Umstände emotional voneinander getrennt werden. Doch können Gesetze, Richtlinien und familiäre Bedingungen zwei Menschen voneinander trennen, die bereits durch ihre See...