Kapitel 29

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Silvester verbringe ich gemeinsam mit meinen Eltern und Josie bei uns zuhause, da ich immerhin diese drei Menschen an meiner Seite haben möchte, wenn ich ein für mich bedeutungsvolles Jahr beginne, welches mir hoffentlich viele Türen und Wege öffnen wird. Wir vier essen also gemütlich zu Abend, schauen eine der vielen Silvestershows und spielen nebenbei Gemeinschaftsspiele, was mich trotz der Umstände äußerst glücklich stimmt. Ich habe Spaß, auch wenn ich nicht aufhören kann an Joanna, unsere gemeinsame Nacht und das anschließende Gespräch zu denken. Doch an diesem Abend schaffe ich es, diese Gedanken in mein Unterbewusstsein zu schieben und mich nur auf die Menschen zu konzentrieren, die bedingungslos für mich da sind und mir jederzeit zuhören, wenn es mir nicht gut geht. „Mensch Josie, hast du eigentlich auch Schwächen?", lacht meine Mutter, da meine Freundin bisher nahezu alle Spiele gewonnen hat und scheinbar unbesiegbar ist. „In Gemeinschaftsspielen? Nein. Ich gewinnen immer ausnahmslos.", spielt sie sich als Angeberin auf und sorgt damit für allgemeines Gelächter, was mich noch umso glücklicher macht. Meine Eltern mögen Josie und verstehen sich unglaublich gut mit ihr, was mich zufrieden stimmt. Zwar ist sie nicht meine feste Freundin und wird diesen Platz aufgrund meiner Gefühle für Joanna auch niemals einnehmen können, aber ein Teil meiner Familie kann sie dennoch werden und das wird auch ihr guttun, um sich geborgen zu fühlen. Ganz davon abgesehen wissen meine Eltern über ihre Sexualität Bescheid und akzeptieren diese, woraus sich für mich keinerlei Sorgen ergeben; auch mein Vater akzeptiert Homosexualität. „Tja, in deiner Gesellschaft werden wir wohl Verlierer bleiben.", bringe ich mich lachend ein und kassiere damit einen leichten Schlag von ihr in meine Seite, was mich noch mehr zum Lachen bringt. „Du bist eine schlechte Verliererin." Ich strecke ihr die Zunge entgegen und kann mich kaum noch fangen, ehe ich den Blick meiner Eltern bemerke und langsam ruhiger werde. „Wieso schaut ihr mich so ernst an?" „Es ist einfach schön dich so ausgelassen zu sehen.", erwidert meine Mutter, weshalb ich meine Hand auf ihre lege und sie anlächle. „Ich gebe mein Bestes; Tag für Tag.", gestehe ich und lenke damit das Gespräch in eine Richtung, die ich für heute eigentlich ruhen lassen wollte. Allerdings rede ich hier mit meinen Eltern, die immer für mich da waren und gerade deswegen vielleicht wissen sollten, wie es mir tatsächlich geht. „Ich weiß, dass wir heute einfach nur das Ende des Jahres und den Beginn eines neuen feiern wollten, aber ihr solltet vielleicht wissen, dass es gerade alles andere als leicht für mich ist. Ihr habt es zwar sicherlich schon bemerkt, doch ich möchte es euch dennoch sagen. Ich habe mich die Wochen vor Weihnachten sehr gehen lassen, mich im Selbstmitleid begraben und ohne Josies Hilfe wäre ich dort sicherlich garnicht mehr rausgekommen, weshalb ich mir die letzten Tage ein paar Gedanken gemacht habe und gerne eine Therapie anfangen würde. Nicht nur aufgrund meiner Aggressionsprobleme...", versuche ich meinen Eltern zu erklären, merke dabei jedoch, wie meine Stimmung sich ändert. Psychisch gesehen stimmt etwas nicht mit mir, womit ich mich allerdings auseinandersetzen muss und damit hoffentlich die Steine aufräume, die aktuell in meinem Weg liegen. Ich muss nicht nur lernen, mit meinen Aggressionen klarzukommen, sondern auch diese nicht an mich selbst zu richten und mich selbst im Gefahr zu bringen. „Amelia, wir stehen bei jedem Schritt hinter dir um dir Rückhalt zu bieten und werden niemals damit aufhören. Wenn du der Meinung bist, dass du therapeutische Hilfe benötigst, dann werden wir dir helfen, diese zu finden.", erwidert mein Vater nun und zeigt sich damit überaus fürsorglich und liebevoll, was ich so nicht von ihm kenne. Klar, er war immer ohne Ausnahme für mich da, aber niemals der sanfte Redner. Ich lächle meine Eltern dankbar an und wende meinen Blick zu Josie, die mir daraufhin über die Wange streicht. „Auch ich werde dir jederzeit zur Seite stehen und immer da sein, um über all deine Sorgen zu sprechen."

Kurz vor Mitternacht gehen wir vier vor die Tür und sehen schon bald dabei zu, wie die ersten Raketen in den Himmel schießen und das neue Jahr begrüßen; ein Moment, der mich immer glücklich gestimmt hat. Diesmal steigen mir jedoch Tränen in die Augen und unweigerlich wandern meine Gedanken zu Joanna, die ich jetzt gerne an meiner Seite hätte. Dieser Wunsch bleibt jedoch immer dieser, weshalb ich mir das trauern nun gewähre und die Tränen über meine Wangen laufen lasse. Prompt schließt mich Josie von hinten in ihren Arm, haucht mir einen Kuss auf die Wange und hält mich fest, was mir unglaublich guttut. „Frohes neues Jahr.", flüstert sie und verschränkt meine Hand mit ihrer. „Dir auch ein frohes neues Jahr." Wir halten uns lediglich im Arm und genießen diesen Moment, was dieser auch für uns bedeutet. Sie ist innerhalb weniger Monaten zu einer wichtigen Komponente meines Lebens geworden und hat mich schon an Tag eins besser verstanden als manch anderer, was uns gleich verbunden hat. Ich möchte diesen wundervollen Menschen nie mehr in meinem Leben missen müssen. „Ich hatte Sex mit Joanna.", kommt es mir irgendwann einfach über die Lippen, woraufhin meine Freundin sich aus der Umarmung zurückzieht und diese Information kurz verarbeitet, wobei es ihr eigentlich schon vorher klar war. „Wie hast du dich dabei und vorallem danach gefühlt?" Sie versucht sich nicht anmerken zulassen, wie sie diese Tatsache verletzt und ebenso aufwühlt, dennoch merke ich es. „Wir müssen nicht darüber spre..", beginne ich, werde aber direkt von Josie unterbrochen: „Mir geht es gut und ich möchte, dass du mir Gegenüber alles sagen kannst." Zustimmend nicke ich. „Ich habe mich währenddessen unglaublich gut gefühlt und alles daran genossen; ich hätte mir mein erstes Mal nicht schöner vorstellen können. Aber am nächsten Tag habe ich mich schuldig gefühlt, obwohl nicht ich betrogen habe und trotzdem hat es sich genauso angefühlt. Ich habe Tomas kennengelernt und kenne genug Einzelheiten der Ehe, um mich für diese Tat zu schämen. Er liebt sie mehr als ein Mensch jemanden lieben könnte, weshalb er das nicht verdient hat." Sie nimmt meine Hand und drückt diese etwas, wodurch ich ein leichtes Lächeln zustande bringe. „Aber Amelia, wie du schon selbst gesagt hast: du hast deinen Partner nicht betrogen und damit keinerlei Gründe, um dich auch nur ansatzweise schuldig zu fühlen. Du bist einfach nur die junge Frau, die sich in ihre Tutorin verliebt hat und dabei irgendwie in ihr Leben gestolpert ist, weil sie dir ganz bewusst den Eintritt gelassen hat. Demnach bist nicht du daran schuld, was passiert ist. Sie hat ihren Mann betrogen und zugelassen, dass es überhaupt soweit kommt. Du hast nichts falsch gemacht.", sagt sie eindringlich und hat zwar recht, doch an meinem Empfinden ändert es nichts. Schließlich habe ich ihr geholfen, ihren tollen Ehemann zu betrügen und an ihrem gesamten Leben zu zweifeln.

Die nächsten Wochen setze ich mich ausgiebig mit den Vorbereitungen für die Abiturprüfungen auseinander und verbringe dabei sehr viel Zeit mit Josie, die mir die ein oder anderen Male hilft, einen klaren Kopf zu behalten. Daher schaffe ich es relativ erfolgreich, nicht allzuoft an Joanna zu denken und mich bestmöglich auf die Lerninhalte zu konzentrieren, die in wenigen Tagen alle frei abrufbar sein müssen. Nebenbei verbringe ich wieder mehr Zeit mit meinen Eltern, zumindest am Abend und würde schon fast sagen, dass Josie dabei schon zu einem festen Bestandteil unserer Familie geworden ist, da sie die meiste Zeit bei uns daheim ist. Außerdem habe ich bereits eine passende Therapeutin finden können, mit der ich allmählich über meine Gefühle sowie Gedanken sprechen kann und stets mein Bestes gebe, um mich ihr Gegenüber zu öffnen. An manchen Tagen gelingt es mir besser als an anderen, was laut Dr. King aber ganz normal ist und mir deswegen kein Druck machen sollte. Ich würde also behaupten, dass ich aktuell völlig ausgelastet bin und mein Körper auf Hochtouren läuft.

„Frau Evans, Ihnen ist doch bewusst, dass Ihre Tutorin eine entscheidende gesetzliche Grenze überschritten hat oder?", erkundigt sich meine Therapeutin bei mir und schaut von ihren Unterlagen auf. Die Formulierung ihrer rhetorischen Frage lässt mich schlucken und verhindert eine Antwort meinerseits, was ihr gleich auffällt. „Ich bin hier, um Ihnen zu zuhören und die Dinge aufzuarbeiten, die Sie in Ihrem Alltag beschäftigen und keine Polizistin, die Frau Smith den Weg ins Gefängnis ebnen möchte. Dennoch handelt es sich um eine klare Straftat, die Sie beide in große Schwierigkeiten bringen könnte." Nervös kaue ich auf meiner Lippe und versuche irgendeine Antwort auf ihre Worte zu finden. „Ja, das ist mir bewusst und deswegen war es auch zweifellos besser, dass wir das zwischen uns beendet haben." „Ist das so? Was würden Sie tun, wenn Sie bei Ihnen ankommt und Ihnen verkündet, dass sie sich scheiden lassen wird?", stellt sie gleich die nächste Frage und überfordert mich damit allmählich, wodurch ich meinen Kopf nun senke und irgendwie versuche, meine Gedanken zu sortieren. Ich wusste ja, dass Therapie einen aufwühlt und strapazieren kann, aber es zu erleben ist dann doch etwas schwieriger. „Ich denke es wäre besser, dieses Thema auf die nächste Sitzung zu verlegen und diese nun für heute zu beenden." Dr. King möchte aufstehen, was ich aber gleich zu verhindern weiß: „Ich würde wieder schwach werden und sie wieder mit meinen Gefühlen spielen lassen, nur um erneut gebrochen zu werden. Aber Dr. King... ich schäme mich nicht dafür, dass ich Joanna liebe. Ich habe es mir nicht ausgesucht." „Ja, das weiß ich. Man kann sich nicht aussuchen, wo die Liebe hinfällt und ich würde auch niemals behaupten, dass Sie etwas falsches getan haben. Sie sitzen hier bei mir, versuchen all die Geschehnisse aufzuarbeiten und damit die Fehler zu beheben, die Ihre Tutorin begangen hat. Vielleicht hilft Ihnen diese Erkenntnis? Frau Smith ist die fürsorgepflichtige Lehrerin, die über dem Gesetz hinweg gehandelt hat und sich auf eine ihrer Schülerinnen eingelassen hat. Das macht Sie zum Opfer ihres Handelns." Die Worte meiner Therapeutin treffen mich wie ein Schlag und haben zur Folge, dass ich anfange zu weinen und das nicht gerade hemmungslos. Ja, ich habe noch Schwierigkeiten über bestimmte Thematiken zu reden, aber sicher fühle ich mich in diesem Rahmen allemal und kann meine Gefühle daher nicht einfach unterdrücken. Sie reicht mir demnach also ein Taschentuch, welches ich dankbar entgegennehme. „Sie hat es doch aber auch nicht leicht.. ganz im Gegenteil.", widerspreche ich schluchzend. „Das ist aber nicht Ihr Problem, verstehen Sie? Ich habe vollstes Verständnis für Gefühle dieser Art und verurteile Sie nicht, doch ohne den Fehltritt Frau Smith's, wären Ihre Gefühle längst nicht so stark ausgeprägt. Das Sie sie schützen wollen, verstehe ich, jedoch hat sie fundamental dazu beigetragen, dass Ihre Gefühle solch eine Intensität annehmen konnten. Das man sich mit SchülerInnen gut verstehen kann, wage ich nicht zu bezweifeln und trotzdem ist sie dabei mehrere Schritte zu weit gegangen, die Sie beide überhaupt in diese Lage gebracht hat. In dem Verhältnis, in diesem Sie beide zueinander stehen, teilt man sein Privatleben nicht mit und sollte weiterhin für ganz klare Grenzen sorgen."

Unerreichbar nah / {txs}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt