XII - Oh My God, They Were Roommates

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I


Es war kaum zu glauben, wie lang die Anfahrt dauerte. Selbst nachdem sie die Stadt erreicht hatten, musste der Bus noch eine gute Stunde durch die Straßen kurven, bis sie endgültig angekommen waren. Alles war voll mit Autos, an jeder zweiten Kreuzung musste er minutenlang warten und außerdem schien sich der Bus nur noch im Schritttempo zu bewegen.

Es wäre unerträglich gewesen, wenn die Stadt selbst nicht so faszinierend gewesen wäre. Überall Gebäude und jedes sah komplett anders aus. Bunt und dreckig. Groß und spiegelnd oder grau und verwinkelt. Es gab flackernde Werbeschirme, Drohnen surrten durch die Luft und lieferten Pakete aus, alles – und wirklich alles – war voller Menschen in verschiedenen Größen und Altersstufen. Blinkende Lichter zeigten Fahrtrichtungen und Sperren an, es gab Einkaufszentren, Wohnblöcke, Parks, Betonwüsten, riesige Lebensraumkomplexe, die nicht nur Wohnungen, sondern auch Geschäfte beinhalteten. Stadtbahnen zogen über ihnen auf Magnetschwebeschienen vorbei. Autos hupten, Motoren surrten, Musik ertönte aus Geschäften und Stimmen schwirrten durch die Luft. Selbst durch das Glas des Busses war klar, dass da draußen Lärm herrschte. Leben. In rechteckige Gebäude und zwischen Straßenraster gepresstes Leben, aber es war da, wie Löwenzahn, der durch Beton wuchs.

Sie hatten über alles davon im Kurs gehört und Simulationen davon gesehen, aber das alles nun in real und greifbar zu sehen war doch etwas ganz anderes. Es war Reizüberflutung pur – aber auf eine berauschende, aufputschende Art. Lexis Herz raste förmlich. Aber nicht nur ihres. Flüsternde Ehrfurcht hatte erneut alle Hybriden befallen, die mit großen Augen durch die Fenster das absolute Chaos da draußen verfolgten. Plötzlich waren sie alle wieder kleine Kinder.


Lexi war halb erleichtert und halb enttäuscht, als der Bus schließlich eine Sammlung ruhig gelegener Wohnblöcke auf einem Hügel ansteuerte, weit entfernt vom Pandemonium der Innenstadt. Es war offensichtlich eine etwas bessere Wohngegend, sogar mit Bäumen garniert und etwas, das vielleicht sogar ein Park war, lag in der Nähe.

„Wir werden euch jetzt der Reihe nach in eure Wohnungen einquartieren", meldete sich plötzlich einer der Aufpasser, die bis jetzt unauffällig vorne im Bus gesessen waren. „Sie sind modern eingerichtet und das Türschloss lässt sich mit eurer Uhr öffnen und schließen. Vergesst sie also nicht, wenn ihr eure Wohnung verlasst."

Lexi hatte noch nicht einmal ihr Zimmer je ohne Uhr verlassen.

„Vergesst auch nichts im Bus, er kommt erst wieder in acht Wochen!"

Es lief alles genau so wie sie in den Kursen geübt hatten. Lexi kannte ihre Hintergrundgeschichte („Begleitetes Wohnen für Waisenkinder"), das Layout der Umgebung, in welchem Umkreis sie sich frei bewegen durften, die Notrufkontakte aller Aufpasser, die in der Nähe blieben und sogar das Gebäude, in dem ihre Wohnung sein würde.


Ihre Wohnung lag im östlichen Gebäude im zweiten Stock und es war gut, dass es einen Lift gab, denn ihr Koffer war schwer. Lexi zerrte ihn durch den Korridor, bis sie ihre Wohnung erreichte, hielt dann ihre Armbanduhr an das Schloss und hörte es zufrieden piepsen, bevor sich die Tür mit einem Klacken entsperrte. Und dahinter – da lag sie.

Sie hatte natürlich keinen direkten Vergleich, aber Lexi fand ihre Wohnung wundervoll.

Siewar nicht gigantisch groß, aber im Vergleich zu ihrem Zimmer in Block B totaler Luxus. Sie war u-förmig angelegt und bog nach dem Eingang nach links in einen Wohnbereich mit kleiner Küche und dann noch einmal nach links in den Schlafbereich mit einem überraschend großen Bett und einem Kleiderschrank. Dazwischen führte eine kleine Tür in das Badezimmer mit dem Klo. Warmes Sonnenlicht schien durch halb geschlossene Jalousien herein und tauchte die Wohnung in heimeligen, orangen Schimmer.

Lexi, Jo & FreiheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt