VII. Kapitel

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"There is immeasurably more left inside
than what comes out in words."

- Fyodor Dostoevsky

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Der Schein des Feuers tauchte die Höhle in warmes Licht, ließ die Schatten tief und schwarz wirken. Qimirs Stimme drang leise an ihre Ohren.

„Die Dunkle Seite der Macht fußt auf Emotionen. Je stärker die Emotionen sind, desto leichter hast du Zugriff darauf, desto schneller kann man aber auch die Kontrolle über die eigenen Handlungen verlieren, wenn man ungeübt ist. Deshalb ist es unglaublich wichtig, die Emotionen zu kontrollieren und im Griff zu haben. Aber noch viel wichtiger ist es, sie anzuerkennen. Du musst einen Zugang zu deinen Emotionen finden, du musst dich ihnen stellen, bevor du lernen kannst, sie zu kontrollieren und sie als Zugang zur Macht zu nutzen.“

Er sah sie über die Flammen hinweg an. Sie erwiderte seinen Blick ruhig, bevor sie ihn nach einigen Sekunden abwandte und stattdessen auf ihre Finger starrte.

„Es ist, als würden meine Gefühle nicht zu mir gehören, sie sind nicht greifbar“, entgegnete Osha zögernd. „Meister Sol hat mir so lange beigebracht, sie zu unterdrücken …“, sie schluckte. „Er hat gesagt, dass man in seinen Entscheidungen erst gänzlich frei ist, wenn die eigenen Gefühle keine Relevanz mehr dabei haben.“

„Und hast du ihm geglaubt?“, fragte Qimir behutsam. Sie sah wieder zu ihm. Das Licht der Flammen ließ seine scharfen Gesichtszüge noch klarer hervorstechen, einige Strähnen seines kohlschwarzen Haares fielen ihm in die Stirn.

„Am Anfang schon“, antwortete Osha, „doch später …“ Kurz hielt sie inne, um ihre Gedanken zu formulieren.

„Gefühle und Emotionen machen uns aus. Wie kann es also richtig sein, sie zu unterdrücken? Wie kann es richtig sein, Entscheidungen ohne jegliche Emotion zu treffen? Uns wurden unsere Gefühle abgesprochen und kleingeredet. Sol hat mir so oft gesagt, dass meine Tränen meine Familie nicht zurückbringen werden, dass ich es hinter mir lassen soll …“

Osha kniff die Augen zusammen. Sie machte sich unwillkürlich kleiner, kauerte sich zusammen, als könnten ihr die Erinnerungen dadurch nichts anhaben.

„Mit seinem Schweigen hat er dich jahrelang die Schuld auf sich nehmen lassen. Du hast dich für den Tod deiner Mütter, für die Zerstörung deines Zirkels verantwortlich gefühlt. Du hast Mae dafür gehasst, dass sie das Feuer gelegt hat, aber tief im Inneren hast du dir selbst die Schuld an dem Geschehenen gegeben.“

Qimirs Stimme war unglaublich weich, als er die Worte sprach. Da war keine Wertung.

„Ja.“ Osha nickte. Er hatte recht, auch wenn ihr erst jetzt auffiel, dass sie sich tatsächlich all die Jahre selbst die Schuld dafür gegeben hatte, ohne es richtig erfassen zu können, ohne sich dem gänzlich bewusst zu sein. Doch jetzt, wo Qimir es aussprach, erkannte sie die Wahrheit seiner Schlussfolgerung.      

„Ich sehe es so oft vor mir …“ Osha stockte kurz, hielt inne, um sich zu sammeln. „Auch wenn ich nicht gesehen habe, wie es passiert ist, sehe ich, wie Sol Mutter Aniseya tötet. Ich sehe, wie meine Familie stirbt, wie mein Zuhause in Flammen ertrinkt, bis nichts mehr übrigbleibt, außer Asche.“

Qimir zog die Augenbrauen zusammen. „Siehst du es in deinen Träumen?“, fragte er.

Osha nickte. „Seit ich die Wahrheit weiß. Ich sehe es fast jede Nacht.“

Er blickte ins Leere. „Deshalb die Albträume“, murmelte er gedankenversunken, „die keine Albträume sind. Sondern Visionen.“

„Visionen?“ Osha runzelte verwundert die Stirn.  

„Die Dunkle Seite der Macht bedient sich vieler Methoden, um Emotionen zu schüren.“ Sein Blick wanderte wieder zu ihr.

„Was hast du empfunden, als du den Helm aufgesetzt hast?“, fragte er. Eine Dringlichkeit lag in seiner Stimme, die Osha nervös machte.

Auch wenn es bereits viele Wochen zurücklag, konnte sie sich noch genau daran erinnern.

„Da war Dunkelheit. Erst habe ich nur Fetzen gesehen. Feuer, Rauch. Ich habe Schreie gehört. Auch wenn sie mehr in meinem Kopf waren, als dass ich sie tatsächlich gehört habe. Dann hatte ich das Gefühl zu ersticken …“, Osha hielt inne. Ein Schauer rann ihr über den Rücken, als sie daran dachte. „Ich habe Panik bekommen. Und dann haben die Schmerzen eingesetzt.“ Ihre Haut, die brannte. Schmerz, der ihren Körper vereinnahmte und zu verätzen schien. Flammen, die alles verschlangen. Keine Luft in ihren Lungen. „Und in all dem Schmerz habe ich gesehen, wie Sol starb.“
 
Sie spürte Qimirs Hand auf ihrer Schulter. Er hatte sich neben sie gesetzt. „Sieh mich an.“ Seine Stimme war sanft und nah an ihrem Ohr. Erst jetzt bemerkte Osha, dass sie die Augen zusammengekniffen hatte und am ganzen Leib zitterte. Sie hatte die Arme um die Knie geschlungen, die Finger in die Haut gegraben. Sie öffnete die Lider, begegnete Qimirs Blick.

„Ich hätte dich niemals dazu auffordern sollen, ihn aufzusetzen. Es war zu viel.“

„Dieser Schmerz …“, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ist es immer so schlimm?“

„Wenn man die Dunkle Seite der Macht nutzt, sind Schmerzen unvermeidlich“, antwortete er nur vage. Osha öffnete den Mund, um nachzuhaken, doch sie merkte mit einem Blick in seine Augen, dass er das Thema nicht weiter vertiefen wollte.

Seine Hand fuhr beruhigend über ihre Wirbelsäule, doch sein Blick war abwesend. Die Berührung seiner Finger löste noch immer Unbehagen aus, doch der Trost, den es ihr spendete, überwog.

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Wieder war da nur Feuer. Feuer, das sie verbrannte, über ihre Haut wanderte. Schwarzer Rauch, der in ihre Lunge drang, sie ersticken ließ. Hitze, der sie nicht entkam. Schmerz, der sie auseinanderriss, sie verwundet und nackt zurückließ. Sie bekam keine Luft. Sie verbrannte. Panik, die jeden Gedanken verschlang, während ihr Körper zitterte und krampfte. Ein Schrei, der von ihren Lippen kam und doch nie gehört wurde.

Als Osha aus dem Schlaf fuhr, war ihre Haut schweißnass. Ihr Atem ging schwer, sie spürte die Feuchtigkeit von Tränen auf ihren Wangen.

Die Höhle war in Schatten getaucht.  

Osha rollte sich zusammen, machte sich so klein wie möglich. Die Angst steckte noch immer in ihren Knochen, die Panik ließ ihren Körper noch immer zittern. Sie kniff die Augen zusammen, versuchte, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Es half nicht. Das Beben wurde haltloser. Sie schnappte nach Luft. Erstickte.

Flammen, die vor ihren Augen züngelten. Nach ihr griffen. Sie einschlossen. Da war überall Feuer, sie konnte nicht entkommen.  

„Du bist in Sicherheit, Osha. Dir kann nichts geschehen …“  

Nur langsam drangen die Worte durch den Nebel in ihrem Kopf. Seine Finger legten sich auf ihren Arm. Sie zuckte zurück, zog den Kopf ein, kniff die Augen noch fester zusammen. Ihre Atmung verschnellerte sich, während ihr Herz raste.

„Du erstickst nicht, Osha. Du erstickst nicht …“

Es dauerte lange, bis die Panik nach und nach abebbte. Länger, als normalerweise.

Als sich ihre verkrampfte Haltung langsam löste, war Qimir immer noch an ihrer Seite. In seinem Blick lag unverhohlene Sorge.

„Irgendwann wird es besser werden“, flüsterte er.

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