XV. Kapitel

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Some children are simply born
with tragedy in their blood.

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Qimir merkte, dass Oshas Albträume heftiger geworden waren. Er sah es an der Art und Weise, wie sie sich herumwälzte, wie sie lautlose Worte murmelte, wie sie wimmerte. Wie ihre Augen hinter den Lidern unruhig hin und her huschten, wie stumme Tränen darunter hervorquollen und über ihre Wangen liefen. Wie ihre Finger zitterten und ihre Schultern bebten. Wie ihr Atem stockender und hektischer wurde, wenn sie aus einem Albtraum in die Panik fiel.

Wieder waren es die Wellen von Panik, die ihn aus seinem ohnehin leichten Schlaf rissen. Ihre Gefühle, die er so intensiv wahrnahm, als wären es seine eigenen. Er erhob sich leise von seinem Lager, trat einige Schritte auf sie zu. Ihre Gestalt wirkte seltsam klein.  

In dieser Nacht schien es noch schlimmer zu sein.

Sie warf sich herum, schlug um sich. „Sol ... Nein. Tu das nicht. Bitte ...“, die Worte waren fast lautlos, kaum zu verstehen. Tränen liefen über ihre Wangen, ihr Körper fing an zu krampfen. „Tu das nicht, tu das nicht. Wir müssen zurück, bitte … Wir müssen sie holen ...“ Ihre Worte wurden zu einem Wimmern. Sie verschluckte sich, hustete erstickt, wachte aber nicht auf.

Mit zwei schnellen Schritten war Qimir gänzlich bei ihr, drehte sie auf den Rücken. Er legte seine rechte Hand an die Seite ihres Gesichts, beugte sich besorgt über sie.

„Osha“, seine Stimme war leise, zitterte leicht.

Der Albtraum hielt sie gefangen, hatte seine Klauen in ihren Geist geschlagen und ließ sie nicht los. Er konnte seine eigene Angst kaum ignorieren, als er merkte, dass ihre Atemzüge immer schwächer wurden, in immer größeren Abständen kamen. Unwillkürlich fragte sich Qimir, ob man an Panik ersticken konnte.

„Osha, folge meiner Stimme. Du musst aufwachen, hörst du? Du musst aufwachen.“

Sie reagierte noch immer nicht. Ihr Körper bebte, die Tränen quollen unter den geschlossenen Lidern hervor. Vorsichtig wischte Qimir sie mit dem Daumen beiseite, fuhr ihren Wangenknochen nach. Er hatte die vage Hoffnung, dass der Körperkontakt sie aus dem Schlaf reißen würde. Dass sie, wie schon so viele Male zuvor, davor fliehen, zurückzucken würde. Doch es geschah nicht und es ängstigte ihn fast noch mehr, dass dieser Reflex nicht mehr vorhanden war. Ihr Schlaf war zu tief, die Panik überwog. Qimir bemerkte jedoch, dass sie unter seiner Berührung etwas ruhiger wurde.

„Es ist vorbei, es ist vorbei, hörst du? Es ist vorbei, dir kann nichts mehr geschehen“, wisperte er.

Da war eine Kälte in seiner Brust, die sich ausbreitete. Oh, es tat so weh, Osha in diesem Zustand der Angst und Hilflosigkeit zu sehen, und kaum etwas dagegen machen zu können. Außer ...

Er streckte seine linke Hand aus, spreizte die Finger ein wenig und platzierte sie eine Handbreit über ihrer Stirn. Qimir schloss die Augen, nutzte die Macht …

... und fiel in absolute Dunkelheit.

Dunkelheit, die schnell von lodernden, hungrigen Flammen durchdrungen wurde. Er sah Körper, die leblos und teilweise mit seltsam verdrehten Gliedmaßen auf dem Boden lagen, die Augen leer. Er sah die Gestalt einer großen Frau, die sich in Staub auflöste. Sah die blaue Klinge, die Sol führte und in den Leib der Hexe stieß. Sah, wie Oshas Mutter starb.

Er wusste, dass das nicht Oshas Erinnerungen waren. Mae hatte gesehen, wie Mutter Aniseya getötet wurde, doch er sah es auch nicht durch ihre Augen. Es war eine Vision der Vergangenheit, die Osha durchlebte. Eine Vision, die unfassbar dunkel war.

Qimir blickte auf seine Hand, hob sie vor seine Augen. Aus irgendeinem Grund konnte er sich in dieser durch die Vision erzeugten Welt bewegen. Mae hatte ihm erzählt, dass Osha in ihrem Zimmer gewesen war, als es passierte. Dass die Tür verriegelt war, während sich das versehentlich von Mae gelegte Feuer erbarmungslos und hungrig ausbreitete.

Qimir wandte sich von der Szenerie ab, lief über den Hof. Es war seltsam, weil er immer noch spürte, dass sein Körper eigentlich woanders war, in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort. Er fand die Tür zu dem Zimmer. Das Feuer kroch an den Holzvertäfelungen entlang, fraß sich unerbittlich weiter. Er hob seine Hand, öffnete mit der Macht die Tür und trat durch die Flammen über die Schwelle, deren Hitze er nicht spüren konnte.

Osha hob ihren Kopf, sah zu ihm, die Augen vor Furcht weit aufgerissen. Als er langsam auf sie zuging, wich sie instinktiv zurück. Qimir hob beruhigend die Hände.

„Ich werde dir nichts tun, Osha“, sagte er leise. Sie musterte ihn. „Ich kenne dich“, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ja, das tust du“, bestätigte er, trat näher. Das achtjährige Mädchen flüchtete nicht erneut vor ihm, starrte ihn stattdessen aus großen Augen an. Als Qimir vor ihr stand, ging er in die Hocke.

„Du kannst hier nicht bleiben, Osha. Du musst zurückkommen.“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich weiß nicht, wie“, schluchzte sie. „Ich finde keinen Ausweg. Da ist so viel Dunkelheit.“

„Ich weiß. Das weiß ich ... Doch wenn du hierbleibst, wirst du vielleicht nie mehr den Weg zurück finden.“ Qimir streckte seine Hände aus, legte sie um das Gesicht des Mädchens. Er beugte sich noch ein Stück vor, bis sich ihre Nasen fast berührten.

„Komm zu mir zurück, Osha.“

Auf einmal war es die erwachsene Osha, die vor ihm saß. Sie legte ihre Hand über seine Finger. Nicht, um die Berührung zu lösen, sondern um zu verhindern, dass er seine Hand zurücknahm.

„Ich bin hier drin gefangen, Qimir“, ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch, ihre Augen waren Splitter, ein See aus Angst. Die Worte waren durchsetzt von grenzenloser Panik, von Resignation und Hilflosigkeit.

„Das hier ist die Vergangenheit, Osha. Es ist vergangen, hörst du? Es ist nicht deine Gegenwart, es ist nicht die Realität. Es ist eine Vision.“

„Warum fühlt es sich dann so echt an?“, sie konnte das Schluchzen kaum unterdrücken. Er konnte sehen, wie sie vor seinen Augen zerbrach. Aus einem Instinkt heraus schlang Qimir seine Arme um Osha, zog sie an seine Brust.

„Weil du es nie verarbeiten konntest“, flüsterte er an ihrem Ohr. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, während das Zittern ihres Körpers immer haltloser wurde. „Lass los“, murmelte er. „Ich halte dich. Du bist nicht allein.“ Osha schmiegte sich noch ein wenig mehr an ihn, suchte Trost in der Umarmung. Es war merkwürdig, dass es sich momentan deutlich weniger wie ein Traum anfühlte.

Nach einigen Augenblicken, auch wenn Qimir nicht sagen kann, wie viel Zeit tatsächlich vergangen war, begann sich die Umgebung um sie herum langsam Stück für Stück aufzulösen.

Kurz war da nur Dunkelheit, bevor er wieder vor Oshas Bett stand. Sie regte sich, öffnete blinzelnd die Augen. Als sie ihn erkannte, richtete sie sich auf und flüchtete in seine Arme.

„Es ist überstanden“, murmelte Qimir in ihr Haar, als er eine Hand sacht auf ihren Kopf legte und seine Finger durch die Locs gleiten ließ. Die andere Hand hatte er auf ihren Rücken gelegt, während sie ihre Arme fest um seinen Oberkörper geschlungen hatte, das Gesicht in seiner Tunika vergraben.

„Danke“, flüsterte sie leise.

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