XI. Kapitel

8 0 0
                                    

Inhaltswarnung: Suizidgedanken

----

Sometimes you think that
you want to disappear
but all you really want is
to be found.

---


Das Meer war auch Tage nach dem Regen stürmisch und aufgewühlt. Wassermassen, die an die Felsen krachten, schaumbekränzte Wellen, die an den steinigen Strand rollten. Der Sturm war vorbei, doch auch jetzt klarte der Himmel nicht vollständig auf, obwohl sich die Sonne bereits im Zenit befand. Ein starker Wind wehte über die Insel, was Osha dazu verleitete, ihre Kapuze hochzuschlagen, bevor sie aus der Höhle trat und sich auf den Weg auf die andere Seite der Insel zum Strand machte.

Sie wusste, dass es ihr auf herkömmliche Weise nicht gelingen würde, die Macht zu spüren. Aus irgendeinem Grund verschloss sie sich ihr vollkommen. Osha wusste noch immer nicht so richtig, wie sie darüber fühlen sollte. Es machte ihr auf der einen Seite sehr viel Angst, da sie die Macht immer hatte spüren können, zumindest ein wenig. Es war fast, als hätte sie einen Teil von sich selbst verloren. Sie hatte Angst, dass Qimir sie irgendwann verstoßen oder töten würde. Andererseits war sie beinahe froh darüber. Wenn sie die Macht nicht mehr nutzen konnte, egal auf welche Weise, dann würde sich das auf Brendok nicht wiederholen. Sie würde nicht ihren Hass, ihren Zorn, ihre Enttäuschung dazu nutzen, jemanden umzubringen. Die Macht könnte sie nicht mehr derart überwältigen, dass es sich anfühlte, als hätte sie keine Kontrolle darüber.

Mit langen Schritten überwand sie die letzten Meter zu dem flachen Stein, und ließ sich darauf nieder, die Beine untereinander geschlagen, den Blick auf die tobenden Wellen gerichtet.

Der Strand bestand zum Wasser hin mehr aus Sand als aus Steinen. Einige Skura hüpften umher und versuchten, ein paar Würmer aus dem vom Regen durchweichten Boden zu ziehen, den heranrollenden Wellen dabei immer wieder ausweichend.

Sie schloss die Augen, hob ihre Hände auf Brusthöhe, hielt sie, als würde sie darin eine Kugel bergen. Leise murmelte sie: „Die Kraft der einen. Die Kraft der zwei. Die Kraft der vielen."

Die Worte kamen über ihre Lippen, als hätten sie schon immer ausgesprochen werden wollen. Sie führte den Singsang fort, leise und beständig, ließ ihn bei bestimmten Vokalen und Silben anschwellen und wieder abebben. Mal war ihre Stimme hoch, dann senkte sie sich wieder, sie wurde lauter und leiser. Noch nie hatte sich etwas so sehr nach zuhause angefühlt, wie die Worte, die in ihrem Inneren nachhallten, die die Stille füllten und das Rauschen der Wellen übertönten.

Osha hatte nie bei einer der Zeremonien mitgemacht - das wäre erst nach dem Aufstieg geschehen - doch ihr Körper schien genau zu wissen, was er tun musste.

Ihre Hände bewegten sich, tanzten in der Luft. Eine Abfolge von Bewegungen, die sie vor so vielen Jahren gelernt hatte. Die sie nie vergessen hatte. Doch es tatsächlich zu tun ... das ging so viel tiefer. Es fühlte sich wie das Anerkennen einer Wahrheit an, die sie lange verleugnet hatte. Sie war eine Hexe. Es fühlte sich an wie Nachhausekommen.

Es war fast, als würde sie Mutter Aniseyas Stimme hören.

„Zieh am Faden und verändere alles. Er verknüpft dich mit deinem Schicksal. Er bindet dich an andere."

Osha gab sich den Worten hin, murmelte sie immer und immer wieder. „Die Kraft der einen. Die Kraft der zwei. Die Kraft der vielen."

Ihre Finger bebten, während sie ihren Körper handeln ließ. Auch wenn sie nie eine Hexe hatte werden wollen, sie konnte nicht leugnen, dass sie eine war. Und sie war unglaublich erleichtert darüber, dieses Erbe zu tragen. Das hatten ihr die Jedi nicht wegnehmen können.

Osha konnte den Faden nicht greifen, konnte ihn nicht wahrnehmen. Doch das war nicht schlimm, erkannte sie. Sie würde es wieder lernen, dass wusste sie instinktiv. Es lag ihr im Blut. Jetzt fühlte sie sich ihrer Familie so nah, wie nie zuvor.

Ob sie die Macht je wieder auf diese Weise nutzen und spüren können würde, wie die Jedi es taten, wie Qimir es tat ... sie bezweifelte es.

Aber der Faden ... sie wusste, dass er da war und dass sie irgendwann wieder danach greifen würde.

Osha konnte nicht bestimmen, wie viel Zeit vergangen war, als ihre Hände zur Ruhe kamen. Sie sah den Wellen zu, die an den Felsen brachen, als ihr wieder der Reim in den Sinn kam.

Du bist bei mir
Und ich bei dir.
Auf ewig eins,
Doch zwei sind wir.
Wie die Sterne am Himmelszelt
Und das Meer tief darunter.
So mach ich dich zu dir
Und du mich zu mir.

Auf einmal wurde ihr schmerzlich bewusst, wie sehr sie ihre Schwester vermisste. Mae war immer da gewesen. Acht Jahre ihres Lebens war sie immer an ihrer Seite. So schlimm es sich für Osha auch manchmal angefühlt hatte, irgendwie immer mit Mae konkurrieren zu müssen, immer alles mit ihr zu teilen, so war es viele Male auch ein Trost gewesen. Ob Mutter Koril und Mutter Aniseya auch wütend darüber waren, dass sie nachts in den Gängen herumschlich, weil sie nicht schlafen konnte, oder dass sie wieder nach draußen gegangen war, Mae würde sie danach fragen, was sie erlebt hatte. Mae würde sie trösten, wenn sie Albträume hatte. Sie hatten sich viel zu häufig in die Küche gestohlen und Würzkekse stibitzt, hatten versucht zu lauschen, wenn Mutter Aniseya mit den anderen Hexen Rat hielt.

Osha hatte Maes Tod nur schwer akzeptieren können. Weil sie tief im Inneren gespürt hatte, dass sie nicht tot war, weil sie den Faden noch immer spüren konnte, der sie mit ihrer Zwillingsschwester verband. Doch jetzt war diese Verbindung verschwunden. Vielleicht lag es daran, dass Mae sich nicht mehr an sie erinnern konnte. Dass da nichts mehr war, was sie miteinander verband.

Keine Vergangenheit, kein Erbe, keine Erinnerungen.

Osha zog die Knie vor die Brust und schlang die Arme darum, bettete ihr Kinn auf ihre Beine. Immer wieder murmelte sie den Reim, während sie in die Wellen starrte. Sich sanft vor und zurück wiegte. Tränen rannen über ihre Wangen, die sie nicht beiseite wischte.

Da war eine so tiefe Traurigkeit in ihrem Inneren, dass ihr das Atmen schwerfiel. Doch diesmal war es keine Panik, nicht das Gefühl, zu ersticken. Nur eine Überwindung, den nächsten Atemzug zu tun. Nur der Gedanke an die stürmische See. An Wellen, die über ihren Kopf schwappen würden. An Wasser, das sich in ihre Kleidung saugen und sie unerbittlich nach unten ziehen würde. An eine Tiefe, die sie aufnehmen würde. An tröstliche Stille und Dunkelheit. An Gedanken und Gefühle, die sie endlich nicht mehr wahrnehmen würde.

An einen Atem, der schwinden würde.

An einen Herzschlag, der verstummte.

the thread that binds usWo Geschichten leben. Entdecke jetzt