Kapitel 19

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Noch nie in seinem Leben hatte er solche Empfindungen wahrgenommen. Sein ganzer Körper kribbelte, als ob tausend unsichtbare Insekten unter seiner Haut krochen. Alles in ihm schrie, dass etwas Dunkles sich um ihn zusammenzog. Die Luft war schwer und dick, fast als ob sie aus flüssigem Gift bestünde.

Alles in ihm schrie. Warnte ihn vor etwas Unheilvollem. Etwas so Mächtigem, dass nicht einmal er es töten konnte.

Und dennoch, obgleich er nichts als Finsternis in dieser Fremden erkannte, half sie ihm. Sie war so plötzlich erschienen, als wäre sie aus den Schatten selbst geboren worden. Ihre Augen fixierten ihn, durchdrangen ihn. Verwirrten ihn. Wie konnte ihn jemand retten, der so offensichtlich von Dunkelheit durchdrungen war? Er gewahrte ihren Herzschlag, langsamer als seiner, ruhig, kontrolliert, in einem unverständlichen Rhythmus, der sich wie eine Melodie in seine Gedanken brannte.

Was auch immer sie für eine Macht einsetzte, es hielt die Trümmerteile der Krypta davon ab, auf ihn hinabzustürzen und ihn unter sich zu begraben. Die massiven Steine, die sich von den Wänden und der Decke lösten, hingen wie von unsichtbaren Händen gehalten in der Luft. Der Staub tanzte, schwebte in merkwürdigen Mustern um sie herum, als folge er einem unsichtbaren Lied. Der Boden unter ihnen vibrierte, ein dumpfes Grollen, das wie ein fernes Donnern klang. Es war, als würde sich die Zeit selbst verlangsamen, eingefroren in diesem Moment, von einer Kraft, die jenseits ihres Verständnisses lag. Tatsächlich schien der Stein um sie herum zu pulsieren, sich zu verdichten. Er sah, wie sich Risse in den Wänden bildeten, dunkle Linien, die sich wie die Adern eines Blattes ausbreiteten - langsam, aber unerbittlich. Das leise Knacken und Knirschen der unter Druck stehenden Steine klang in seinen Ohren wie das Wispern von Geistern.

"Was seid Ihr?", wisperte Iskaii, unfähig, seinen Blick von ihren Augen zu lösen. Er wusste nicht, ob es Furcht war oder Ehrfurcht, die diese seltsame Frau in ihm weckte.

Sie schwieg. Ihr Körper pulsierte im Einklang mit den vibrierenden Wänden der Krypta. Und mit jedem Atemzug wurden die Schatten tiefer, die Kälte intensiver. Die Härchen in Iskaiis Nacken stellten sich auf.

Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Um sie herum explodierte die Gruft in einem Chaos aus Lärm und Zerstörung. Ihre Wände zerbarsten wie Glas. Trümmer wurden mit brutaler Gewalt in alle Richtungen geschleudert, als wären sie von einer unsichtbaren Hand fortgerissen worden. Doch nicht ein Hauch der Explosion streifte Iskaiis Haut.

Und mit einem Mal standen sie im Freien, als hätten sie die unterirdische Welt durch einen Schleier verlassen. Über ihnen spannte sich ein Himmel von unnatürlicher Farbe, durchzogen von hellen Blitzen, die den Friedhof in ein gespenstisches Licht tauchten. Der Wind heulte wie ein vor Schmerz wimmerndes Lebewesen und ließ die alten Bäume erzittern.

Iskaii rang nach Atem, sein Herz hämmerte in seiner Brust wie ein gefangenes Tier. Er sah sich um. Die Krypta war nur noch ein rauchender Trümmerhaufen. Die Einzelteile flogen noch immer durch die Luft, schwere Steinbrocken, die in einem willkürlichen Tanz vom Wind getragen wurden. Einige schlugen in die Grabsteine ein, zertrümmerten das alte Gestein und ließen es wie fauliges Holz zersplittern. Andere krachten gegen die mächtige Friedhofsmauer, die unter dem Aufprall ächzte und erbebte, als wollte sie jeden Moment zusammenbrechen.

Seine grünen Augen wanderten zurück zu der kleinen Frau vor ihm. Sie stand ruhig da, unbeeindruckt von der Zerstörung, die um sie herum wütete. Ihr Körper pulsierte noch immer, nun im Einklang mit den Blitzen am Himmel, als hätte sie die Dunkelheit selbst entfesselt. Sie hob den Kopf und ihr Blick traf den seinen - fest und unverrückbar.

~~~

"Was ist das für eine verfluchte Scheiße?!" Samantha schrie gegen den heulenden Wind an, der ihre Worte mit sich riss, als wollte er sie verschlucken. Sie kauerte hinter der alten Friedhofsmauer, die unter dem Aufprall der umherfliegenden Gesteinsbrocken erzitterte. Risse zogen sich wie Spinnweben über das Mauerwerk und drohten, die schützende Barriere zum Einsturz zu bringen.

Dean saß dicht hinter ihr, seinen breiten, muskulösen Körper schützend an ihren Rücken gepresst. Sein Atem ging stoßweise, Schweiß glänzte auf seiner Stirn, obwohl die Nachtluft eiskalt war. Herabrieselnde Steine und abgebrochene Äste prasselten auf ihn nieder, aber er rührte sich nicht. Sein Verstand war ein Wirbel aus Verwirrung und Entsetzen, während er versuchte, das Geschehene zu begreifen. Was zur Hölle war los? Was konnte eine derartige Explosion verursachen, dass die alte Krypta zerbarst, als wäre sie aus Papier?

"Hat dein Freund das ausgelöst?", fragte er an Dandelia gewandt. Seine Stimme klang brüchig, fast verloren im Chaos. Die Kriegerin saß ebenfalls hinter der Mauer, ihre Augen weit aufgerissen vor Angst. Sie hatte die Arme über dem Kopf zusammengeschlagen, als wollte sie sich vor einem unsichtbaren Feind schützen. Ihr Gesicht war ein Bild des Grauens, Tränen hatten schmutzige Spuren auf ihren Wangen hinterlassen, vermischt mit dem Blut und den Überresten der Ghule.Sie schüttelte den Kopf, ihre Lippen zitterten.

"Iskaii besitzt eine solche Macht nicht", flüsterte sie heiser, kaum lauter als der Wind. "Womöglich haben Eure seltsamen Kugeln nicht nur ein Leben auf dem Gewissen, sondern auch etwas Uraltes erweckt."

"Bullshit!" Samantha stieß das Wort wie ein Geschoss hervor. Ihre Augen funkelten vor Zorn und Panik, als sie sich zu der Gruppe wandte, die aus der Feder der anderen, ebenso irren Autorin stammte. Sie hatten noch nicht lange miteinander zu tun, aber in dieser finsteren Stunde waren sie Verbündete geworden. "Freya!", rief sie und ihre Stimme war nun voller Anklage. "Was hat diese Scheiße ausgelöst?"

Cemetery StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt