Kapitel 1 ☾

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Die Fahrt zog sich lange hin, obwohl die Straßen kaum befahren waren. Das leise Brummen des Motors lullte mich beinahe in einen Halbschlaf, aber ich zwang mich wach zu bleiben. Ich wollte unbedingt alles um mich herum wahrnehmen, die Veränderungen spüren, die vor uns lagen.

"Wie fühlst du dich?", fragte Mama plötzlich und warf mir einen kurzen Blick aus den Augenwinkeln zu. Ihre Stimme klang sanft, aber auch erschöpft. Sie lächelte schwach, versuchte stark zu wirken – wie immer.

"Ich weiß nicht... Aufgeregt? Aber auch... nervös", gab ich zu und starrte aus dem Fenster. Die Landschaft zog träge vorbei, Felder und Wälder, die allmählich den grauen Gebäuden der Stadt wichen.

Amira meldete sich von hinten: "Ich bin gespannt auf unser neues Zimmer! Und hoffentlich gibt's einen Spielplatz in der Nähe, oder?"

"Vielleicht", sagte Mama, wobei sie den Blick fest auf die Straße gerichtet hielt. Ich sah, wie ihre Finger das Lenkrad umklammerten. "Wir werden das Beste daraus machen. Gemeinsam."

Ludwigshafen, Hemshof. Ich hatte den Namen der Gegend gegoogelt, nur um zu lesen, dass es als sozialer Brennpunkt galt. Günstig, ja, aber eben auch bekannt für seine Probleme. Doch darüber sprach Mama nie. Für sie zählte nur, dass wir einen Ort hatten, den wir Zuhause nennen konnten – auch wenn die Wände dünn und der Lärmpegel hoch sein sollten.

Schließlich bog das Auto in eine enge Straße ein, gesäumt von hohen, grauen Wohnhäusern. Einige waren renoviert, die meisten aber schienen ihre besten Jahre schon lange hinter sich gelassen zu haben. Ich bemerkte Graffiti auf den Mauern, zerschlagene Fenster in den oberen Stockwerken und Leute, die auf dem Gehweg standen und uns misstrauisch beäugten.

Mama hielt vor einem abgenutzten Mehrfamilienhaus an und stellte den Motor ab. "Da wären wir." Sie lächelte, obwohl die Müdigkeit in ihren Augen deutlich zu sehen war. "Unser neues Zuhause."

Ich stieg aus und reckte mich, spürte die steife Müdigkeit in meinen Gliedern. Amira hüpfte aus dem Wagen, ihre Begeisterung ungebrochen. Sie rannte um das Auto herum und schnappte sich sofort eine der kleineren Kisten. "Ich will auch helfen!"

"Vorsichtig, Amira", ermahnte ich sie, aber insgeheim freute ich mich über ihre Fröhlichkeit. Sie war immer das Licht in unseren dunklen Tagen gewesen.

Das Haus wirkte von außen wenig einladend. Der Putz bröckelte, und der Eingangsbereich war vollgestellt mit kaputten Fahrrädern und Sperrmüll. Doch als wir die Tür zum Treppenhaus öffneten, wehte uns ein Hauch von etwas Neuem entgegen – die Hoffnung auf einen Neuanfang, wie klein und zerbrechlich sie auch sein mochte.

"Wir wohnen im dritten Stock", verkündete Mama und balancierte einen Karton auf der Hüfte. "Also los, wir packen es an."

Die Treppen hinauf zu steigen, war eine Herausforderung. Mit jedem Schritt fühlte ich das Gewicht der letzten Jahre auf meinen Schultern drücken – die schwierigen Zeiten mit Vater, die Momente, in denen wir uns gefangen und machtlos gefühlt hatten. Aber mit jedem Stockwerk, das wir erklommen, schien diese Last ein kleines Stückchen leichter zu werden.

Oben angekommen, schloss Mama die Tür zu unserer neuen Wohnung auf. Der Geruch von frischer Farbe schlug mir entgegen. Die Räume waren klein, die Wände kahl und der Boden knarrte unter jedem Schritt. Aber es war sauber, hell, und – was am wichtigsten war – es gehörte uns.

"Also, was denkst du?", fragte Mama, ihre Augen auf mich gerichtet.

Ich ließ den Blick durch das leere Wohnzimmer schweifen, stellte mir vor, wie wir es bald mit Leben füllen würden – Möbel, Bilder, unser Lachen und unsere Stimmen. "Es wird schön werden", sagte ich schließlich und meinte es auch so.

"Ja", sagte Mama leise und zog Amira und mich in eine enge Umarmung. "Das wird es."

Doch kaum hatten wir die ersten Kisten hineingetragen und die Wohnungstür geschlossen, hörten wir plötzlich Schritte auf dem Flur. Es war ein schwerer, schleppender Gang, begleitet von gedämpften Stimmen. Ich sah zu Mama, die erstarrt lauschte. Dann klopfte es an der Tür – ein hartes, drängendes Klopfen, das in der Stille widerhallte.

Mama warf mir einen unsicheren Blick zu, bevor sie zur Tür ging und den Riegel zurückschob. "Ja?", fragte sie vorsichtig.

Die Tür öffnete sich einen Spalt, und ein Mann mittleren Alters erschien im Rahmen. Sein Gesicht war wettergegerbt, die Augen scharf und prüfend. Er trug eine alte Arbeitsjacke und hatte die Hände tief in den Taschen vergraben.

"Willkommen in der Nachbarschaft", sagte er und musterte uns aufmerksam. "Ich bin Herr Albrecht, der Hausmeister."

Mama lächelte zaghaft. "Danke. Es ist schön, jemanden kennenzulernen."

Er nickte, aber seine Miene blieb ernst. "Ich hoffe, Sie fühlen sich hier wohl. Die Gegend... nun ja, sie hat ihre Eigenheiten. Aber wenn Sie Fragen haben oder Hilfe brauchen, kommen Sie einfach zu mir."

"Das werden wir", antwortete Mama freundlich.

Herr Albrecht nickte erneut, hielt sich jedoch noch einen Moment länger an der Schwelle auf, als wolle er etwas sagen. Schließlich schüttelte er leicht den Kopf, murmelte eine leise Verabschiedung und verschwand den Flur hinunter.

Ich tauschte einen Blick mit Mama. "Was wollte er?"

"Nur höflich sein, schätze ich", sagte sie, doch ich konnte sehen, dass auch sie unsicher war.

Irgendetwas lag in der Luft – etwas Unausgesprochenes. Ein Gefühl, dass dieses neue Leben, so verheißungsvoll es auch schien, nicht ohne seine eigenen Herausforderungen kommen würde.

Aber das war egal. Denn wir waren hier, zusammen. Und das war das Wichtigste.

"Na dann", sagte ich und hob eine der letzten Kisten auf. "Packen wir es an."

Und damit begann unser neues Kapitel – eines, das vielleicht keine einfachen Antworten bereithielt, aber mit jedem Schritt, den wir taten, ein kleines bisschen mehr nach Zuhause roch.

Verliebt, trotz allem. - jamal blaqWo Geschichten leben. Entdecke jetzt