Kapitel 2 ☾

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Nachdem wir die meisten Kisten in der Wohnung abgestellt hatten und Mama sagte, dass sie erst einmal auspacken wollte, beschloss ich, mit Amira nach draußen zu gehen. Sie war so aufgedreht von der neuen Umgebung und hatte die ganze Zeit gefragt, wann wir endlich die Gegend erkunden könnten. Ein bisschen frische Luft würde uns beiden guttun.

„Komm, Amira", sagte ich und nahm ihre kleine Hand, bevor wir die Wohnung verließen. „Wir schauen uns mal ein bisschen um."
Amira hüpfte fröhlich die Treppen hinunter, ihre Zöpfe wippten bei jedem Schritt. Ich folgte ihr, mein Herz klopfte schneller, als es eigentlich sollte. Der Hinterhof des Blocks war klein und eher trist. Einige alte Bänke standen herum, der Boden war voller weggeworfener Kippen und kaputten Glasflaschen. Trotzdem schien Amira das nicht zu stören. Sie rannte los und blieb an einer Ecke stehen, wo ein paar verblasste Blumenbeete zwischen den Wohnblöcken platziert waren.

„Schau mal! Blumen!", rief sie begeistert, als ob sie einen Schatz entdeckt hätte. Ich lächelte und folgte ihr, doch plötzlich drang ein Geräusch an mein Ohr, das mich innehalten ließ – lautes Lachen und gedämpfte Beats, die aus einem Handy dröhnten.

Ich drehte mich um und sah sie: Sechs Jungs saßen auf einer der Bänke weiter hinten im Hof. Sie lehnten sich lässig zurück, einer trommelte mit den Händen einen Rhythmus auf die Rückenlehne, während ein anderer mit tiefer Stimme begann zu freestylen. Ihre Haut war dunkel, die Haare meist kurz geschnitten oder unter Caps verborgen, nur einer hatte einen langen, lockigen Zopf. Sie trugen typische Straßenklamotten – Hoodies, Jogginghosen, einige mit leuchtenden Sneakern. Zwei von ihnen hatten Bauchtaschen quer über der Brust geschnallt, als wären sie das wichtigste Accessoire überhaupt.

Und dann fiel mein Blick auf einen bestimmten Jungen in der Mitte der Gruppe.

Er saß leicht nach vorne gebeugt, seine Arme auf den Knien abgestützt. Breitschultrig, muskulös, mit einer goldenen Kette um den Hals, die im Abendlicht glitzerte. Eine auffällige Uhr an seinem Handgelenk funkelte, und sein Gesicht war von einem dichten, gepflegten Vollbart eingerahmt. Seine großen, dunklen Augen waren ruhig und aufmerksam, als sie mich musterten. Ich hatte das Gefühl, dass er mich aus der Gruppe heraus mit nur einem einzigen Blick völlig erfasste.

Er trug eine schwarze Bauchtasche und sah mich so an, als hätte er jede meiner Bewegungen registriert. Für einen Moment erstarrte ich und konnte mich nicht rühren. Seine Augen schienen in mein Innerstes zu blicken, als ob er etwas suchte, das ich selbst noch nicht verstanden hatte.

Amira bemerkte die Jungs auch und blieb stehen. Ihre Augen wurden groß, und für einen Moment sah sie so aus, als wolle sie zu mir zurücklaufen. Doch dann zog sie mich einfach nur fester an der Hand und versteckte sich halb hinter meinem Bein.

„Lass uns weitergehen", flüsterte sie leise und drückte meine Hand fester. Ich nickte unmerklich, wollte gerade losgehen, doch dann hörte ich eine tiefe Stimme.

„Hey, neu hier?"

Ich drehte mich um. Der Junge mit dem Vollbart sprach mich an. Seine Stimme war ruhig, aber tief.
Die anderen Jungs verstummten, schauten uns an. Manche grinsten, als ob sie gespannt darauf waren, was als Nächstes passieren würde.

„Ja", sagte ich schließlich, überrascht, dass ich meine Stimme gefunden hatte. „Wir sind gerade eingezogen."

„Okay" sagte er und nickte langsam. Er ließ seinen Blick einmal von meinem Kopf bis zu meinen Schuhen gleiten, als würde er sich ein Bild machen. „Woher kommt ihr?"

„Von außerhalb", antwortete ich ausweichend. Ich wollte nicht gleich alles preisgeben, schon gar nicht vor einer Gruppe Fremder, die mich jetzt alle anstarrten. Amira schmiegte sich noch enger an mich, als ob sie meinen zögerlichen Tonfall spüren könnte.

„Schon gut", murmelte er und hob die Hand, als wolle er zeigen, dass er keine Absichten hatte, uns zu bedrängen. „Ihr seid bei uns im Block, ja? Die Wohnung da oben?" Er deutete vage nach oben, zu den Fenstern in unserem Stockwerk.

Ich nickte zögernd. „Ja, genau."

„Gut zu wissen." Sein Lächeln wurde ein wenig breiter, und er lehnte sich wieder zurück. Die anderen Jungs warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu, einer flüsterte irgendetwas, was ich nicht verstehen konnte. Aber es schien sie zu amüsieren.

„Wie heißt du?", fragte er schließlich und legte den Kopf leicht schief. „Nur, damit ich weiß, wen ich hier so als Nachbar habe."

„Ähm... Ich heiße Jamila", sagte ich schließlich und zwang mich, ihm in die Augen zu sehen. Seine Augen schienen noch dunkler zu werden, als er das hörte. Irgendetwas blitzte in seinem Blick auf, aber ich konnte nicht sagen, ob es Belustigung oder Interesse war.

„Jamila", wiederholte er langsam, als würde er den Namen abwägen. Dann nickte er zufrieden. „Ich bin Jamal."

Jamal. Der Name passte zu ihm. Er streckte die Hand aus, als wolle er mir die Hand geben, aber dann sah er auf Amira hinunter und ließ sie wieder sinken.

„Und du, Kleine?", fragte er und versuchte, freundlich zu klingen. Doch Amira wich sofort ein paar Schritte zurück und schüttelte nur den Kopf, die Augen groß und voller Vorsicht.

„Schon gut, keine Sorge." Jamal lächelte, als wäre ihre Reaktion keine Überraschung für ihn. „Passt gut auf euch auf, ja? Die Gegend hier ist nicht ohne."

Ich nickte nur. „Wir kommen klar", sagte ich und versuchte, sicher zu klingen. Doch er lächelte nur geheimnisvoll, als hätte ich irgendetwas gesagt, das ihn amüsierte.

„Das hoffe ich", murmelte er leise, während die anderen Jungs wieder zu reden anfingen, als sei unser kleines Gespräch schon wieder vorbei. Er hielt meinen Blick noch einen Moment länger fest, dann wandte er sich ab und verschwand in dem allgemeinen Lachen und Geplauder seiner Gruppe.

Ich drehte mich langsam um und zog Amira mit mir fort. Mein Herz pochte noch immer viel zu schnell, und ich konnte nicht aufhören, an seinen Blick zu denken. Wir hatten uns vielleicht nur wenige Worte gesagt, aber ich wusste, dass dies nicht unser letztes Gespräch gewesen war. Nicht hier. Nicht in diesem Block.

„Wer war das?", fragte Amira leise, als wir um die Ecke bogen.

„Niemand", sagte ich schnell. „Nur ein Nachbar."

Aber auch während wir weitergingen, spürte ich seinen Blick noch immer auf mir. Und das Gefühl, dass er mich beobachten würde, ließ mich auch dann nicht los, als wir die Straße entlangliefen.

„Vielleicht sollten wir doch gleich wieder hoch", murmelte ich, aber Amira schüttelte den Kopf und zeigte auf einen kleinen Spielplatz, der versteckt zwischen zwei Gebäuden lag. Er sah alt aus, die Rutschen waren angerostet, und das Gras wucherte an manchen Stellen. Trotzdem konnte ich den freudigen Glanz in Amiras Augen sehen.

„Bitte, Jamila! Nur kurz!"

„Na gut", seufzte ich schließlich und ließ sie los. „Aber nur kurz."

Amira rannte los, kletterte sofort auf das alte Klettergerüst und begann, wie ein Äffchen von Stange zu Stange zu hangeln. Ich setzte mich auf eine der Bänke und sah ihr zu, aber mein Blick wanderte unwillkürlich zurück in Richtung des Blocks.

Irgendwo dort saß Jamal noch mit seinen Freunden. Und ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass er wusste, dass ich an ihn dachte.

Verliebt, trotz allem. - jamal blaqWo Geschichten leben. Entdecke jetzt