Kapitel 5 ☾

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Heute Morgen schoss mir immer wieder das Geschehene von letzter Nacht durch den Kopf, was mich dazu brachte, mich rasch fertigzumachen und mein Gesicht zu waschen, als wollte ich damit die Erinnerungen abspülen. Ich hatte für heute mit Yara, einem Mädchen aus meiner Klasse, abgemacht. Sie wollte mir Hemshof etwas besser zeigen. Das war ganz gut, denn bisher kannte ich nicht viel außer den grauen Fassaden meines Blocks.

Nachdem ich die dunklen Ringe unter meinen Augen weggeschminkt hatte, zog ich mir etwas Bequemes an. Mein Fokus lag jedoch, wie immer, auf meinen Haaren. Ich stylte mir einen sleeken, lockigen Dutt, sprühte ein wenig Parfum auf und eilte die Treppen hinunter. Yara hatte gesagt, sie würde mich direkt vor meinem Gebäude abholen, also wartete ich vor der Haustür und starrte gedankenverloren auf die Betonwände des Eingangsbereichs, während ich leicht von einem Fuß auf den anderen wippte.

„Was geht ab?" hörte ich plötzlich eine vertraute Stimme rufen. Ich wandte den Kopf und sah Yara, lässig und mit einem breiten Grinsen auf den Lippen, auf mich zukommen.

„Endlich, Junge, ich dachte schon, du lässt mich hier verrotten," erwiderte ich scherzhaft und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

„Ach, was Jamila," entgegnete sie lachend und rollte die Augen, als ob ich es wieder einmal maßlos übertrieben hätte.

Wir schlenderten gemeinsam durch die engen Straßen von Hemshof. Es war mein erstes Mal, dass ich das Viertel wirklich erkundete, und ich bemerkte Dinge, die mir vorher nie aufgefallen waren: Die Graffiti, die an den Wänden leuchteten, die bunten, aber heruntergekommenen Fassaden und die kleinen, versteckten Geschäfte, an denen man leicht vorbeigehen konnte, wenn man nicht darauf achtete. Nach einer Weile landeten wir in einem kleinen Park, nicht weit entfernt von meinem Block. Die Blätter an den Bäumen waren schon leicht gelblich gefärbt, und eine Gruppe von Jungs saß auf einer Parkbank, lachte laut und warf sich gegenseitig Dosen zu.

„Hast du schon ein paar Leute in deinem Viertel kennengelernt?" fragte Yara mich und nahm dabei einen Schluck von ihrem Red Bull.

„Ne, also, nur so flüchtig," gab ich zu und erinnerte mich unwillkürlich an die Begegnung mit den Jungs. „Die Leute wirken auch nicht gerade..." Ich verzog das Gesicht und suchte nach den richtigen Worten. „Nicht so, äh, anständig."

Yara schmunzelte, als hätte sie genau gewusst, was ich meinte. „Hast du schon die eine Gruppe an Jungs gesehen die oft maskiert sind? Hoodblaq? Sie sind die angesagtesten Newcomer Deutschlands," sagte sie mit einem leicht stolzen Tonfall, als ob sie Teil ihres Erfolgs wäre.

„Ja, mal hier und da gesprochen, nichts grossartiges. Kennst du die etwa?" wiederholte ich verblüfft.

„Ja," nickte sie und trank einen weiteren Schluck, „ich kannte die auch noch, bevor sie die Schule geschmissen haben."

„Schule geschmissen?" fragte ich erstaunt und versuchte, meine Verwirrung nicht allzu offensichtlich zu zeigen.

„Ja, sie sind überzeugt, dass sie es auch ohne Abschluss schaffen werden."

Ich nickte nachdenklich und versuchte mir vorzustellen, wie jemand so fest daran glauben konnte, dass er Erfolg haben würde, dass er bereit war, alles andere aufzugeben. Wir redeten noch eine Weile weiter, bis Yara plötzlich einen Anruf bekam. Sie warf einen schnellen Blick auf ihr Handy und seufzte.

„Ich muss nach Hause," sagte sie und machte ein leicht bedauerndes Gesicht. „Meine Mutter braucht mich."

Ich nickte verständnisvoll. „Alles klar, kein Problem. Ich gehe dann auch lieber heim, es wird spät."

„Pass auf dich auf, ja?" Sie umarmte mich fest, und als sie sich löste, sah sie mich noch einmal eindringlich an.

„Du auch," rief ich ihr nach, als sie bereits Richtung Bushaltestelle lief. Kurz darauf sah ich sie in den Bus einsteigen und entschwand aus meinem Blickfeld. Mit schnellen Schritten machte ich mich auf den Rückweg zu meinem Block. Ich wollte eigentlich noch garnicht nachhause, aber ich will mich auch nicht alleine in so einer Gegend rumtreiben.

Als ich in meine Straße einbog, bemerkte ich von Weitem jemanden vor dem Blockeingang sitzen. Er rauchte, die Beine breit ausgestreckt, das Handy in der Hand. Es war Jamal. Instinktiv beschleunigte ich meinen Schritt, um ihn nicht beachten zu müssen. Die Ereignisse von gestern hingen mir noch nach, und ich wollte vermeiden, in ein weiteres unangenehmes Gespräch verwickelt zu werden. Doch Jamal schien mich bereits bemerkt zu haben.

„Jamila!" rief er laut.

Ich tat so, als hätte ich ihn nicht gehört, und versuchte, weiterzugehen.

„Lak! Jamila!" rief er erneut, diesmal mit Nachdruck.

Ich seufzte leise, atmete einmal tief durch und drehte mich schließlich um.

„Jamal."

„Warum so eilig?" fragte er skeptisch und legte den Kopf leicht schief.

„War draußen, und mir ist kalt," entgegnete ich ausweichend.

„Yane, bei 20 Grad?" fragte er mit hochgezogener Augenbraue.

„Ja," murmelte ich nur und schlang meine Arme um mich selbst.

„Na dann. Wegen gestern—" setzte er an, doch ich unterbrach ihn sofort.

„Ach komm, lass uns das einfach vergessen," sagte ich und versuchte, ein gezwungenes Lächeln aufzusetzen.

Jamal blickte mich einen Moment lang ernst an und zögerte, bevor er weitersprach. „Ich wollte mich bedanken und entschuldigen. Danke, dass du mir geholfen hast, und sorry, dass du mich so sehen musstest."

Seine Worte klangen ehrlich, sanft. Ich sah in seine dunklen Augen, die mich aufmerksam musterten. Plötzlich schien er weniger der harte, unnahbare Typ zu sein, als jemand, der sich bemühte, die richtigen Worte zu finden. Die Anspannung in meinen Schultern ließ langsam nach.

„Schon okay, Jamal," sagte ich leise und schlang meine Arme enger um mich selbst, als könnte das die seltsame Nervosität vertreiben, die sich in meiner Brust ausbreitete. „Aber du solltest wirklich auf dich aufpassen. Es bringt nichts, sich so zu verlieren."

Jamal nickte und ließ seinen Blick nicht von mir ab. „Ich weiß," murmelte er und zog an seiner Zigarette. Für einen Moment sah es aus, als wolle er noch etwas hinzufügen, aber dann schüttelte er nur leicht den Kopf. „Ich bin nicht immer so, weißt du?"

„Ich hoffe es," erwiderte ich mit einem schmalen Lächeln, das jedoch schnell wieder verschwand.

Seine Augen verengten sich ein wenig, als ob er versuchen würde etwas aus mir rauszubekommen. Schließlich gab er auf und nickte leicht.

„Kommst du kurz mit hoch?" fragte er dann unerwartet.

Ich blinzelte überrascht. „Hoch? Zu dir?" Mein Herz begann schneller zu schlagen, aber ich zwang mich, ruhig zu bleiben.

"Nur bisschen quatschen. Nicht lange" sagte er.

"Nur kurz." antwortete ich sanft.

"Versprochen." erwiederte Jamal während er seine Zigarette auf dem Boden ausdrückte und sich Richtung Hauseingang bewegte.

Verliebt, trotz allem. - jamal blaqWo Geschichten leben. Entdecke jetzt