Kapitel 6 ☾

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Wir stiegen die Treppen hoch, die schmalen Stufen knarrten unter unseren Füßen, und in der stillen Enge des Treppenhauses hörte ich jeden Atemzug, jedes Herzklopfen lauter als sonst. Jamal ging voraus, schien ruhiger als ich. Irgendwann blieben wir vor seiner Wohnung stehen, und er schloss die Tür mit einem Klick auf. Der Raum, den ich gestern Nacht nur schemenhaft wahrgenommen hatte, erschien mir jetzt anders: nüchtern, aber ordentlich.

"Deine Eltern haben ein Auge für Einrichtung." sagte ich schmunzelnd aber Jamal verschwand schon in die Küche.
Ich lief auf das Sofa zu und setzte mich als er mit zwei Red Bull zurück kam, und mir eins mit einem Grinsen übergab und sich neben mich setzte, mit einem gewissen Abstand.

"Jamal." unterbrach ich die Stille und er schaute mich an.
"Was sagst du wenn deine Eltern reinkommen und mich hier sehen?"
Jamal hielt inne, das geöffnete Red Bull in seiner Hand schwebte für einen Moment in der Luft, bevor er es langsam abstellte. Sein Blick wurde plötzlich hart, verschlossen. Die Leichtigkeit, die noch vor einer Sekunde in seinem Gesicht zu sehen gewesen war, verschwand, als ob ich etwas gesagt hätte, das ihn aus einer entfernten Erinnerung gerissen hatte.

„Meine Eltern." wiederholte er leise, als würde er versuchen die passenden Worte zu finden.
Er löste seine Augen von meinen, sein Kiefer spannte sich an, und ich konnte das Muskelspiel in seinem Gesicht beobachten.
,,Sie werden nicht reinkommen, Jamila," fügte er trocken hinzu, fast tonlos.
Irritiert legte ich den Kopf schief.
,,Wie?" fragte ich verwirrt, aber sein Schweigen legte sich wie ein schwerer Vorhang zwischen uns.
Er nahm einen tiefen Atemzug und legte das Getränk auf den Tisch, als würde er sich auf etwas vorbereiten. „Meine Mutter..." Er zögerte und sah mich dann an, seine dunklen Augen schienen tiefer und verletzlicher, als gestern.

„Meine Mutter ist verstorben."

Die Worte trafen mich wie ein Schlag. Ich spürte, wie mein Herzschlag schneller wurde und die Luft um uns herum schwerer.
„Was?" flüsterte ich, mein Verstand brauchte einen Moment, um das zu verarbeiten. „Jamal, ich—"
„Es ist schon ein Jahr her," unterbrach er mich leise und sah wieder weg, starrte ins Leere, als würde er dort etwas sehen, das nur er verstehen konnte.
,,Sie war krank. Es war schnell und unerwartet. Eines Tages war sie noch da, am nächsten..."
Seine Stimme brach fast unmerklich, doch er fing sich sofort wieder. „...war sie einfach weg."
Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Plötzlich verstand ich.
Ich erinnerte mich daran, wie ich ihn letzte Nacht vorgefunden hatte. Ich hatte gedacht, es sei nur ein typisches Verhalten, ein sinnloses Ausleben von Frust oder Langeweile. Aber jetzt verstand ich, dass es viel mehr war. Ein verzweifelter Versuch, etwas zu betäuben, was viel tiefer ging.

„Und dein Vater?" fragte ich zögerlich, obwohl ich die Antwort irgendwie bereits ahnte.
„Der hat uns schon vor Jahren verlassen. Meine Mama und ich waren auf uns gestellt. Alleine mit unseren Problemen. Sie war alles was ich hatte. Jetzt bin ich alleine. Ich habe zwar meine Jungs, aber sie gehen alle am Ende des Tages zurück zu deren Eltern und in ihre eigenen vier Wände. Ich komme immer in diese Leere zurück."

Ich schluckte schwer, wusste nicht, was ich sagen sollte. Worte wie „es tut mir leid" schienen in diesem Moment nicht nur unangebracht, sondern auch hohl. Nichts, was ich sagen konnte, würde die Schmerzen lindern, die ich jetzt in seiner Stimme hörte. Und plötzlich fühlte ich mich schrecklich klein, mit meinen eigenen Problemen und Sorgen.

„Gestern..." begann ich langsam, unsicher, wie ich fortfahren sollte. Aber ich wusste, dass ich es ihm Schulde, da er sich über seine Vergangenheit geöffnet hat.

„Gestern war ich nur draußen, weil ich nicht darüber nachdenken wollte, dass ich... jetzt frei bin."

Jamal sah mich an, seine Augenbrauen zogen sich leicht zusammen, als hätte er mich nicht richtig verstanden.
„Frei? Wovon redest du?"
„Frei von meinem Vater," sagte ich leise.
Jamal schaute verwirrt und versuchte mir zu folgen.
„Er hat uns immer nur Probleme gemacht. War ständig betrunken, auf Drogen... Wenn er da war, hat er alles zerstört."
Meine Stimme begann zu zittern, und ich spürte, wie meine Kehle eng wurde. „Vor kurzem hat meine Mutter ihn verlassen und wir sind hier hin gezogen. Und jetzt dachte ich, ich würde mich... besser fühlen, weißt du? Aber stattdessen..." Ich schüttelte den Kopf, versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die plötzlich in meine Augen stiegen.
„...stattdessen fühle ich mich einfach leer. Er fehlt mir keineswegs, aber ich habe auch keinen Frieden."
Jamal sagte nichts, aber er rutschte ein Stück näher zu mir. Sein Blick war weich geworden.

„Das kenne ich. Dieses Gefühl, dass alles plötzlich still ist, und du weißt nicht, ob es gut ist oder ob es dich innerlich auffrisst."

Ich nickte stumm, unfähig, etwas zu sagen. Die Leere, die ich so oft gespürt hatte, die mich in kalten Nächten wach hielt, war in diesem Moment plötzlich nicht mehr so erdrückend. Vielleicht, weil ich sie zum ersten Mal in Worte gefasst hatte. Oder weil ich wusste, dass jemand anderes sie verstand.

"Darf ich?" Fragte Jamal und deutete mit seinen Armen an, dass er mich in den Arm nehmen wollte. Ich nickte leicht und schlang meine Arme um seinen Rücken während seine an meinem Nacken waren.

"Wenn etwas sein sollte, ist meine Tür immer offen für dich Jamila." flüsterte Jamal.
"Das gleiche gilt für dich."

Daraufhin zog mich Jamal noch näher an sich und wir verweilten in dieser Position. Sein Duft, seine Wärme und seine Zärtlichkeit taten so gut.
Ich weiss nicht ob wir es bereuen werden uns so schnell, so geöffnet zu haben, aber in diesem Moment war es unwichtig.
Was zählte war hier und jetzt.

Ich fühlte mich das erste mal so geborgen in männlichen Armen.

Verliebt, trotz allem. - jamal blaqWo Geschichten leben. Entdecke jetzt