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Song zu diesem Kapitel - Gone von Catslash, Moth Face

Die Stille im Haus ist beinahe erdrückend. Nur das leise Tappen von Hopes Pfoten auf dem Parkett durchbricht die Ruhe, während sie mir folgt.

Die Nachmittagssonne wirft schmale Streifen Licht durch die halbgeschlossenen Vorhänge, und das Haus – so perfekt und geordnet wie immer – fühlt sich an wie eine Art Gefängnis. Nicht für mich, sondern für die Geheimnisse, die Kenzo hier verbirgt.

Ich weiß, dass ich das nicht tun sollte. Ich weiß, dass ich Kenzo damit betrügen würde, wenn ich in seinen Sachen herumschnüffele. Aber die Ungewissheit in mir frisst mich langsam auf. Wer ist er wirklich? Und warum fühlt es sich an, als würde er mich immer auf Abstand halten, egal wie nah wir uns kommen?

„Okay, Iliana, nur ein Blick", flüstere ich mir selbst zu, als könnte das meine Schuldgefühle dämpfen.

Ich beginne in seinem Arbeitszimmer. Der Schreibtisch ist akribisch aufgeräumt, kein einziges Blatt Papier liegt herum. Ich ziehe die Schubladen auf, aber sie sind fast leer – bis auf ein paar Kugelschreiber und einen Block, auf dem nichts geschrieben steht.

Hope setzt sich neben mich und beobachtet mich neugierig, als würde sie mich dafür verurteilen, dass ich hier bin.

„Hilf mir lieber, einen Schlüssel zu finden", murmle ich, während ich weitersuche.

Ich öffne eine Tür nach der anderen, doch die verschlossenen Räume bleiben mir verwehrt. Ich hebe Teppiche an, schaue unter Möbel, durchsuche die Bücherregale – nichts. Keine Spur eines Schlüssels, keine Spur von irgendetwas, das mir helfen könnte, die Puzzleteile zusammenzusetzen.

Gerade als ich aufgeben will, fällt mein Blick auf eine kleine Kiste in der Ecke eines Regals. Sie wirkt unscheinbar, fast so, als würde sie gar nicht dazugehören. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen, während ich sie vorsichtig herunternehme.

Ich öffne den Deckel und finde einen Stapel Briefe. Die meisten sind in einem einfachen, anonymen Umschlag, ohne Absender.

Mein Blick fällt auf einen Brief, der obenauf liegt. Die Handschrift ist geschwungen, beinahe zärtlich.

Mein Atem stockt, als ich beginne zu lesen:

Ich hoffe, dass dieser Brief dich erreicht. Ich wollte dir nur sagen, dass ich die Blumen bekommen habe. Sie waren wunderschön – genau wie damals, als wir noch gemeinsam durch den Garten gegangen sind. Weißt du noch, wie du immer darauf bestanden hast, die Rosen zu schneiden, obwohl ich gesagt habe, dass sie sich noch nicht öffnen sollten?

Es tut mir gut, zu wissen, dass du an mich denkst. Hier geht es mir inzwischen besser. Es ist nicht einfach, aber ich habe gelernt, mit dem Alltag umzugehen. Und trotzdem – jeder Tag ohne dich fühlt sich unvollständig an.

Ich vermisse dich so sehr. Mehr, als Worte je ausdrücken könnten. Manchmal frage ich mich, ob du das wirklich weißt. Ob du verstehst, wie viel du mir bedeutest. Aber vielleicht musst du das nicht. Vielleicht reicht es, dass ich es fühle.

Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen. Ich zähle die Tage, bis wir ein Leben zusammen beginnen können. Ein Leben, in dem ich dich nicht aus der Ferne lieben muss, sondern ganz nah bei dir sein kann.

Pass auf dich auf, mein Sohn. Und vergiss nie, dass du immer in meinem Herzen bist – egal, wie weit wir voneinander entfernt sind.

In Liebe,
Deine Mutter

Ich halte den Brief in der Hand, die Worte hallen in meinem Kopf wider. Seine Mutter.

Hope stupst meine Hand mit ihrer Nase an, als hätte sie gespürt, dass mir die Gedanken entgleiten. Ich lege den Brief zurück in die Kiste und schließe den Deckel vorsichtig.

Mein Herz schlägt noch immer wie wild, während ich die Kiste zurück an ihren Platz stelle.

Kenzo hatte mir erzählt, dass seine Mutter mit seinem Stiefvater ist, und er sie gerne aus dem Haus von ihm holen möchte. Aber warum klingt es so, als wäre sie wortwörtlich dort gefangen?

Ich atme tief durch, nehme Hope auf den Arm und gehe zurück ins Wohnzimmer. Das Haus fühlt sich plötzlich noch stiller an, noch schwerer. Ich weiß jetzt, dass ich auf etwas gestoßen bin, das ich nicht ignorieren kann.

Und gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass ich mich mit jeder Antwort, die ich suche, nur tiefer in eine Geschichte verstricke, die ich vielleicht gar nicht hören will.

———

Die Nacht ist still, abgesehen vom gelegentlichen Rascheln der Bäume vor den Fenstern. Ich liege ausgestreckt auf Kenzos weicher, dunkelgrauer Couch, mit einer Decke über meinen Beinen und Hope, die zusammengerollt am Fußende schläft.

Der Fernseher läuft, aber meine Aufmerksamkeit schwindet mit jeder Sekunde. Es ist irgendeine flache Reality-Show – Menschen, die sich gegenseitig anschreien und Drama inszenieren. Normalerweise lasse ich solche Sendungen immer laufen, da sie für Unterhaltung sorgen, aber diese ist mir dann doch zu oberflächlich.

Ich seufze leise, greife nach der Fernbedienung und drücke auf „Weiter" ehe es mich zu einem Nachrichtensender leitet. Ich denke noch daran, den Sender zu wechseln, als die Stimme des Nachrichtensprechers meine Aufmerksamkeit fesselt.

„...unsere Top-Schlagzeile heute Abend: Der Geschäftsmann und Gründer einer Organisation für Menschenwürde, Diablo Torres, wurde heute Abend tot aufgefunden."

Mein Finger bleibt über der Fernbedienung schweben. Meine Augen kleben am Bildschirm, während ein Bild eingeblendet wird. Ein junger Mann mit hellbraunem Haar und intensiven grünen Augen. Sein Lächeln wirkt charmant, fast unbeschwert. Doch die Worte des Sprechers zerstören diesen Eindruck sofort.

Herr Torres, bekannt für seinen Einsatz für benachteiligte Gemeinschaften und seine philanthropischen Projekte, wurde Berichten zufolge erschossen. Die Tat ereignete sich in einem privaten Club, den er regelmäßig besuchte. Die Behörden haben bisher keine Spuren des Täters gefunden, und die Ermittlungen laufen. Diablo Torres wurde nur 28 Jahre alt."

Ich schlucke, während der Bericht weiterläuft. Sie zeigen Aufnahmen des Tatorts – ein Gebäude mit hohen Fenstern, abgesperrt durch gelbes Polizeiband. Reporter stehen in der Nähe, das Flackern ihrer Kameras beleuchtet die Szenerie.

Herr Torres hatte sich in den letzten Jahren einen Namen als Geschäftsmann gemacht und galt als aufstrebender Star in der Wirtschaftswelt. Seine Organisation ‚Humanitas' setzte sich weltweit für soziale Gerechtigkeit ein. Die Polizei bittet um Hinweise aus der Bevölkerung."

Die Stimme des Nachrichtensprechers wird dumpf, fast wie ein Hintergrundgeräusch, als mein Herz schneller schlägt. Ich starre weiter auf das Bild von Diablo Torres. Diese Augen... das Lächeln... Irgendetwas daran lässt mich frösteln.

Ich schlinge die Decke enger um mich und spüre, wie mein Atem flacher wird. Ein Gedanke schleicht sich in meinen Kopf, und ich versuche, ihn zu verdrängen. Aber es funktioniert nicht.

Kenzo.

Genau dann wo er weg ist, passiert so etwas. Er würde doch aber keiner Seele das Leben nehmen - egal wie unberechenbar er zu sein mag. Er ist bei seiner Mutter und bei seinem Stiefvater. Er war in keinem Club um jemanden umzubringen.

Ich rede es mir so lange selbst ein, bis ich es mir selbst glaube.

Hope hebt den Kopf, als hätte sie meine Unruhe gespürt, und legt ihn auf meinen Oberschenkel. Ich streiche über ihr weiches Fell, aber es beruhigt mich nicht.

„Das kann nicht sein", flüstere ich. Doch tief in mir nagt eine beunruhigende Ahnung.

Was, wenn das kein Zufall ist? Was, wenn Kenzo mit all dem zu tun hat?

Eins weiß ich: wenn er zurückkommt, werde ich hier sein und nach Antworten verlangen. Entweder er gibt mir sie oder ich werde erstmal mit Hope zu meinen Eltern gehen.

Seine Entscheidung.

Aiming at LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt