Prolog

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PROLOG

Marlene wusste nicht, wie sie hier landen konnte - auf dem kalten Fließenboden im persönlichen Badezimmer ihrer Chefin, mit tränenüberströmten Wangen und Schluckauf, unfähig ruhig zu atmen, geschweige denn den Raum in naher Zukunft zu verlassen.

Das letzte Mal hatte sie sich in so einer Lage befunden, als sie herausgefunden hatte, dass sie schwanger war. Es war keine Übertreibung wenn sie sagte, dass damals ihre gesamte Welt zusammengebrochen ist. Sie hatte Stunden schluchzend in ihrem Bad verbracht, bis ihre Freundin Kat sie geradezu herausgeschleift und aufs Sofa verfrachtet hatte. Kat hatte ihr zugehört, sie getröstet und ihr versichert, dass sie immer hinter ihr stehen würde. Im Gegensatz zu ihren Eltern, die ihr gesagt hatten, dass sie sich nicht die Mühe machen brauchte, wieder nach Hause nach Deutschland zurück zu kommen. Und das war ihr neues Leben: schwanger, allein, ohne Geld und gestrandet in England.

Und doch hatte Marlene es bis hierhin geschafft: zu einem guten Job, einer gemütlichen Wohnung die sie mit Kat teilte und zu einer wundervollen Tochter, die ihr mehr bedeutete, als das Leben selbst. Sie würde nichts ändern, würde die Zeit nicht zurückdrehen, denn Mia war ein Geschenk des Himmels und um nichts in der Welt wollte sie einen weiteren Tag ihres Lebens ohne sie verbringen.

Marlene versuchte, tief durchzuatmen, um ihren Schluckauf zu beruhigen. Gedanken an Mia halfen ihr immer, sich auf die wichtigen Dinge zu fokussieren und sich nicht von ihren Gefühlen überwältigen zu lassen. Ihre Hände zitterten und es kostete sie einige Anstrengung, sich aufzurichten. Bei einem Blick in den Spiegel über dem Waschbecken wäre sie am liebsten erneut in Tränen ausgebrochen. In diesem Zustand konnte sie unmöglich wieder zurück zu Linda und den Kunden gehen.

Die Kunden. Marlene schluckte schwer. Sie wusste, Mädchen auf der ganzen Welt würden töten um in diesem Moment an ihrer Stelle zu sein. Wahrscheinlich wäre sie selbst eine von ihnen, wenn ihr Leben nicht so verlaufen wäre, wie es ist. Wenn sie damals, vor über zwei Jahren, nicht ihm begegnet wäre. Kopfschüttelnd drehte sie den Wasserhahn auf und wusch sich die verlaufene Wimperntusche von den Wangen. Sie durchwühlte Lindas Hängeschrank, wohlwissend, dass ihre Chefin immer Schminke für den Notfall hier aufbewahren würde.

Mit frisch geschminkten Augen und Lippen verließ sie zehn Minuten später das kleine Badezimmer. Sie hoffte, Linda würde ihre Abwesenheit in den letzten zwanzig Minuten verzeihen. Auf dem Weg ins Studio, wo sich inzwischen sicherlich alle versammelt hatten, brühte sie eine Kanne Tee und Kaffee, um den Kunden etwas zu trinken anzubieten.

Sie weigerte sich, den Namen auszusprechen, nicht einmal in ihren Gedanken konnte sie den Klang ertragen. Es kostete Marlene einiges, ihre Fassung zu behalten und mit einem gezwungenen Lächeln ins Studio zu treten. Sofort lag alle Aufmerksamkeit auf ihr.

„Marli, da bist du ja!“, rief Linda mit breitem Grinsen und schien kein bisschen böse auf sie zu sein. Mit Linda als Chefin hatte Marlene wirklich das größte Glück. Sie war überaus verständnisvoll was ihre Situation betraf und wann immer sie Probleme oder Zeitnot wegen Mia hatte, konnte sie früher gehen oder einen Tag freimachen. Zwar war Linda gleichzeitig auch sehr fordernd und hatte oft schlechte Tage, doch im Gesamtbild war sie alles, was Marlene sich in einer Chefin wünschen konnte.

„Entschuldigung“, sagte Marlene leise und trat zu der Gruppe, die aus Linda und fünf jungen Männern bestand. Sie stellte das Tablett mit den Tee- und Kaffeekannen und Tassen auf einen Beistelltisch und stellte sich dann pflichtgemäß vor - sie war aus dem Raum geflohen, bevor es dazu kommen konnte.

„Hallo, ich bin Marlene, aber ihr könnt mich Marli nennen. Schön euch kennenzulernen“, grüßte sie so aufgeschlossen wie möglich und schüttelte die ausgestreckten Hände widerwillig.

„Schön dich kennenzulernen“, erwiderten die Jungs und nannten der Reihe nach ihre Namen, als würde Marlene nicht genau wissen, wie diese lauteten. Sie waren schließlich nicht gerade unbekannt. Noch dazu hatten sie sich ihr alle schon einmal vorgestellt - sie erwartete nicht, dass sie sich daran erinnerten, schließlich war das zwei Jahre her und sie wollte gar nicht wissen, wie viele Menschen diese Jungen seitdem kennengelernt hatten.

„So, nun also zum Fotoshooting, ihr Lieben. Ich habe mir etwas Besonderes ausgedacht“, begann Linda und lenkte somit die Aufmerksamkeit auf sich selbst und das Set, womit Marlenes Arbeit hier vorerst getan war.

Sie machte auf der Stelle kehrt und eilte zum anderen Ende des Raumes. Sie konnte die Kälte nicht abschütteln, die ihren Körper in Beschlag genommen hatte, als sie seine Hand ergriffen hatte. In einem Versuch sich selbst zu wärmen, rieb sie sich über die Arme und verschränkte diese dann vor ihrer Brust. Sie achtete darauf, nicht zurück zu der kleinen Gruppe zu schauen und beschäftigte sich stattdessen lieber mit ihrem IPad, auf welchem sie Lindas Termine für die nächsten Tage plante.

Ihr Blick fiel auf den heutigen Auftrag: 11 Uhr - Sonderauftrag, Top-Secret. Wie lächerlich. Marlene hätte nachfragen sollen, was es damit auf sich hatte, dann hätte sie heute einfach frei genommen oder Mia als Grund vorgeschoben, weshalb sie einfach nicht kommen konnte. Verdammt, wie gerne sie dieser Situation entgangen wäre.

One Direction war nun wirklich die Gruppe von Menschen, denen sie nicht wieder begegnen wollte. Nicht, dass die Jungs nicht alle nett und freundlich waren, nein, Marlene hatte ein ganz anderes Problem. Harry Styles war für sie nämlich nicht nur irgendein Schönling, der in einer Boy-Band sang und haufenweise Geld verdiente - er war der Grund, wieso Marlene von ihren Eltern verstoßen und ihr Kunst-Studium abbrechen musste. Denn damals, als sie ihn und seine Freunde das erste Mal traf, hatte er sie auf eine Hausparty eingeladen, mit ihr getanzt und geflirtet, sie in ein Hotelzimmer gebracht und mit ihr geschlafen. Dann war er abgehauen, bevor sie überhaupt wach war, ohne ein Wort oder eine Nachricht, und hatte sich natürlich nie wieder gemeldet.

Marlene hatte erst zwei Wochen später erfahren, mit wem sie da eigentlich die Nacht verbracht hatte - das Harry Styles nicht nur irgendein hübscher Junge war, sondern ein ziemlich bekannter Sänger - und fünf Wochen später hatte sie herausgefunden, dass sie mit seinem Kind schwanger war.

Und das war der Grund, warum Marlene sehr gut auf ein Wiedersehen hätte verzichten können.

Über Meinungen würde ich mich freuen! :)

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