Kapitel 3

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Kay:

Mit meiner Gitarre auf dem Rücken stehe ich an dem Highway, der von New York nach Chicago führt. Ich halte meinen Daumen raus und warte, dass sich irgendwer erbarmt mich mitzunehmen.

Ich weiß, dass es gerade für eine junge Frau wie mich nicht sonderlich sicher ist, per Anhalter zu fahren, aber es bleibt mir nichts anderes übrig. Ich bin nunmal ein Straßenkind und das habe ich mir freiwillig ausgesucht. Ich habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Nach außen hin hat meine Familie immer die perfekte Fassade gewahrt, aber dahinter brodelte unsere ganz private Hölle. Mein Vater hat mich und meine Mutter früher immer geschlagen, wenn er betrunken war. Und das war er oft. All diese Nächte, in denen er in mein Zimmer getorkelt ist und ich mich versucht habe unter der Decke zu verstecken. Er hat mich jedes Mal gefunden. Ich war ihm hilflos ausgeliefert und diese Ohnmacht und Schwäche haben in mir einen riesengroßen Hass geschürt. Ich versuche bis heute die Erinnerungen an ihn und seine Taten zu verdrängen. Wenn ich an ihn denke fühle ich den Schmerz nicht, den er mir zugefügt hat. Ich fühle nur diesen Hass. Mit 18 Jahren konnte ich dann endlich von zu Hause abhauen. Ich habe mich nie so frei gefühlt wie an dem Tag, an dem ich das Haus verlassen konnte, in dem mir so viel Schmerz zugefügt wurde. Als Schwarzfahrer an Bord eines großen Kreuzfahrtschiffes bin ich von Deutschland in die USA gekommen. Im Gepäck nichts als meine Gitarre und im Kopf die große Freiheit. Ich habe fest an den American Dream geglaubt, habe geglaubt, dass man hier alles erreichen kann. Aber das Leben auf der Straße ist hart, härter als ich mir anfangs vorgestellt habe. Nach Hause gehen kam für mich nicht in Frage, also habe ich mich durchgebissen. Ich spiele in heruntergekommenen Kneipen und arbeite immer ein paar Monate in Gelegenheitsjobs oder klaue auch mal hier und da ein paar Kleinigkeiten, um mich über Wasser zu halten. Ich schlafe meistens in Obdachlosenunterkünften, auf der Straße oder in den Bars, in denen ich spiele. Manchmal gehe ich auch mit einem Mädchen mit, das ich vor einem Club aufsammle. Geld für den Eintritt habe ich nicht, aber davor herumlungern ist ja nicht verboten. Ich habe in den sieben Jahren, die ich nun schon hier bin, kein Wort deutsch mehr geredet. Ich habe mich mit der Situation arrangiert und fühle mich wohl. Ich kann über mich selbst bestimmen und das ist mir das wichtigste. 

Ein SUV hält mit quietschenden Reifen auf dem Seitenstreifen und der Fahrer winkt mich herein. "Wo soll's denn hingehen, junge Lady?", fragt er und verzieht seinen Mund zu einem schmierigen Grinsen. Meine Alarmglocken schrillen, als er sich zu mir herüberbeugt, um in meinen Ausschnitt zu sehen. Ich schlucke und sage selbstbewusst: "Chicago." Er wird meine Kraft schon noch zu spüren bekommen, wenn er sich an mir vergreifen möchte. Es wäre nicht das erste mal, dass ich mich in einer solchen Situation wehren muss. Er grinst noch breiter und zeigt dabei eine Reihe goldener Zähne. Mit einer Hand fährt er sich durch die nach hinten gegelten Haare und winkt mich mit der anderen Hand herein. "Da fahr ich auch hin, komm rein." Ohne zu zögern, klettere ich auf den Beifahrersitz, nehme meine Gitarre auf den Schoß und ziehe die Tür zu. Der SUV setzt sich in Bewegung und die nächsten Kilometer fahren wir schweigend. Meine Gedanken wandern immer wieder zur letzten Nacht. Dieses Mädchen vor dem Club, es war irgendwie anders. Nicht nur der Fakt, dass sie nicht mit mir mitgehen wollte, sondern auch die Art, wie sie mich geküsst hat, faszinieren mich. Der Kuss war eine einzige Gefühlsexplosion. ich habe das Kribbeln bis in meine Zehenspitzen gespürt. Ich möchte sie wiedersehen, aber jetzt ist es zu spät. „Du hast es verkackt, Kay.", sage ich wütend zu mir selbst. Als es langsam dunkel wird, merke ich plötzlich, dass die Straße sich verändert. Wir fahren vom Highway herunter und kommen an Lagerhallen vorbei. "Hey! Das ist die falsche Route!", rufe ich und bin sofort hellwach, alle meine Sinne sind geschärft. "Wir fahren nicht nach Chicago, Süße.", schleimt der Fahrer und legt seine Hand zwischen meine Beine. Ich packe sofort seine Hand und verdrehe seinen Arm. Da er noch am fahren ist, kann er sich nicht richtig wehren und ich nutze die Situation aus, um die Türe des Wagens zu öffnen. Sie klemmt und ich rüttle so fest ich kann daran. Plötzlich hält er an und befreit sich aus meinem Griff. Er will mich schlagen, aber ich ducke mich unter seiner Hand und er schlägt gegen die Scheibe, sodass sie zerbricht. Glassplitter schneiden sich in meine Haut und der Fahrer hält sich fluchend seine blutende Hand. Ich trete feste gegen die klemmende Türe und endlich öffnet sie sich. Ich springe heraus, meine ganze rechte Seite blutet. Taumelnd laufe ich ein paar Schritte. Wir sind mitten im nirgendwo, registriere ich verzweifelt. es gibt keine Möglichkeit, Hilfe zu holen. Ich sehe  mich nach einem Versteck um, so wie damals, als mein Vater die Treppe zu meinem Zimmer hochgekommen ist. Schwere Schritte und ein rasselnder Atem versetzen mich zurück in meine Kindheit. Panisch renne ich weg, aber er holt mich ein, packt mich an einer Hand und zieht mich zu sich. Ich kann seinen stinkenden Atem riechen, als er zischt: „Dafür wirst du bezahlen, Kleine." Plötzlich sehe ich nur noch meinen Vater vor mir und der Hass steigt in mir hoch. Ich hole aus, als er versucht meine Hose zu öffnen und schlage zu. Ich spüre wie unter meiner Hand Knochen splittert und fühle mich auf einmal stark. Ich habe die Kraft, mich zu wehren. Ich bin nicht mehr das kleine Kind, dass sich vor seinem Vater verstecken muss. Der Schlag trifft ihn direkt auf die Schläfe. Er geht röchelnd zu Boden und bewegt sich nicht mehr. Triumphierend stehe ich über ihm. Ich habe ihn bewusstlos geschlagen und es fühlt sich verdammt gut an. 

Nachdem ich ihn auf die Rückbank gezerrt habe, setzte ich mich hinters Steuer und fahre wieder auf den Highway. Keine halbe Stunde später sehe ich die Polizei hinter mir. Sie winken mich raus. Vielleicht können sie mir ja helfen. Am nächsten Parkplatz halte ich an und zwei Polizisten treten neben den Wagen. „Das Auto wurde als gestohlen gemeldet, Miss.", sagt der kleinere der beiden. „Aussteigen.", kommandiert der andere. Ich steige aus dem Wagen, beide Hände erhoben und sage: „Der Wagen gehört dem Mann auf der Rückbank. Er wollte mich vergewaltigen." – „An den Wagen stellen, Hände auf's Dach.", kommandiert der größere, der inzwischen seine Waffe gezogen hat. Der andere öffnet die hintere Wagentüre und der Fahrer purzelt hinaus. Wie kann es sein, dass er immer noch bewusstlos ist?, frage ich mich und langsam merke ich, dass ich ziemlich tief in der Scheiße stecke. „Er ist tot.", sagt der kleinere, nachdem er sich über den Körper gebeugt hat. Ich spüre, dass der Lauf der Pistole an meinen Hinterkopf gedrückt wird. „Mitkommen!", ruft einer der beiden und sie eskortieren mich zu ihrem Wagen. Plötzlich fällt mir auf, dass etwas sehr wichtiges fehlt. „Meine Gitarre!", schreie ich und versuche verzweifelt mich aus dem eisernen Griff der Polizisten zu lösen. Tränen laufen mir die Wangen hinunter, als ich den Polizeiwagen einsteige und sehe, wie der SUV mit meiner Gitarre auf dem Beifahrersitz immer kleiner wird.  


Hold on to me (girlxgirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt