Kapitel 27

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Tess:

Viel zu früh klingelt der Wecker am Montag Morgen. Genervt schlage ich nach meinem Handy, um noch ein paar Minuten weiterschlafen zu können. Das Wochenende ist wie immer viel zu schnell vorbei und ich habe absolut keine Lust auf Schule. Ich vermisse meine Freiheit, die Reisen, das Modeln und vor allem das Ausschlafen. Bis zur 10. Klasse konnte ich mir immer frei nehmen für Modeljobs, mein Vater unterstützte mich, wo es ging. Aber jetzt mit diesem blöden Abitur geht das nicht mehr. Ich quäle mich aus dem Bett und trotte ins Badezimmer. Ich brauche doch überhaupt kein Abitur! Ich will modeln, nicht studieren gehen! Müde und schlecht gelaunt mache ich mich für die Schule fertig. Es bleibt mir ja eh nichts anderes übrig. Seit mein Vater mich und Kay erpresst hat, strenge ich mich richtig an. Ich lerne auf Klausuren, schwänze keine Stunde in der Schule und mache im Unterricht gut mit für meine mündliche Note. Eigentlich bin ich in der Schule immer nach dem Motto vier gewinnt unterwegs gewesen - nur nicht durchfallen, dann ist alles gut. Aber jetzt reicht das meinem Vater scheinbar nicht mehr. 

Mit einem Becher Kaffee setze ich mich in meinen Mini, drehe erstmal die Heizung auf und Musik an und fahre los, um Mark abzuholen. Seit ich weiß, dass seine Familie finanzielle Probleme hat, spiele ich so oft wie möglich Taxi für ihn. Auch wenn das bedeutet, dass ich noch etwas früher aufstehen muss als sonst. 

Auf der Fahrt denke ich zurück an das Wochenende. Nach meiner Geburtstagsfeier war Kay das ganze Wochenende bei mir geblieben. Mein Vater war mit Geschäftlichem beschäftigt und Louise hatte sowieso das Wochenende frei, sodass Kay und ich unsere gemeinsame Zeit in vollen Zügen genießen konnten. Bei dem Gedanken an sie wird mir ganz warm und Glücksgefühle breiten sich aus. So wirklich kann ich es immer noch nicht glauben. Wie wahrscheinlich ist es, dass ich eine Person in New York treffe, mich wegen eines Kusses in sie verliebe, sie nach wenigen Monaten plötzlich in Deutschland in meiner Stadt auftaucht, dann Aushilfslehrerin an meiner Schule ist, sich ebenfalls in mich verliebt und wir schließlich zusammen kommen? Und trotzdem ist es passiert. Ich schüttle den Kopf, immer noch überwältigt. 

Wir haben so viel geredet letztes Wochenende und ich verliebe mich immer mehr in sie, je mehr ich über sie erfahre und je besser ich sie kennenlerne. Ich bin so froh, dass sie mir die Geschichte mit ihren Eltern erzählt hat. Ich wusste ja, dass es eine schlimme Hintergrundgeschichte geben muss. Aber diese dann auch zu erfahren ist für mich ein starker Vertrauensbeweis. Sie ist eine so starke und unabhängige Frau, eine Kämpferin. Wir kommen aus so verschiedenen Welten und haben uns trotzdem gefunden. Ein Wunder. 

Ich freue mich schon sehr, sie gleich in der Schule sehen zu können. Wegen dieser ekelhaften Direktorin müssen wir zwar immer noch aufpassen, aber ein Etappenziel - meinen 18. Geburtstag - haben wir schon erreicht. 

Ich fahre in Marks Einfahrt und sehe ihn bereits mit einer Zigarette im Mund, lässig am Tor lehnen. "Hoi Tess, bist fit?", begrüßt er mich, als er die Autotüre öffnet. Ich grinse ihn an. "Es ist Montag Morgen, was erwartest du?", antworte ich ihm. Die Autofahrt über reden wir nicht viel. Ich bin noch ganz in Gedanken an Kay versunken und er scheint auch noch nicht in Stimmung für Konversationen zu sein. An der Schule angekommen verabschieden wir uns, da Mark andere Schwerpunktfächer gewählt hat als ich. Nur wenige Stunden in der Woche haben wir zusammen.

Die ersten Stunden vergehen schleppend und ich bin größtenteils damit beschäftigt, wach zu werden. Über meinen Stammplatz allein in der letzten Reihe bin ich an einem Morgen wie diesem sehr dankbar. Da ich früher häufiger gefehlt habe, habe ich mich in keines der Grüppchen meiner Stufe integriert. Ich habe Mark und das reicht mir. Meine Welt unterscheidet sich sowieso grundlegend von der meiner Mitschüler. Mark versteht mich da einfach besser. 

Als ich in der Pause zu meinem üblichen Platz laufe und auf Mark warte, ist irgendetwas anders als sonst. Ich spüre mehr Blicke als gewöhnlich an mir haften und habe das unangenehme Gefühl, die ganze Schule redet über mich - mehr als sonst. Schnell schüttle ich den Gedanken ab. Ist bloß das übliche Gerede, denke ich mir und zünde meine Zigarette an. Im Augenwinkel sehe ich einen Jungen auf mich zeigen und höre: "Das ist sie. Die ist mit dem Knasti zusammen." Will der mich eigentlich verarschen? Wut steigt in mir auf. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf das Gespräch der Kinder. Schließlich muss ich herausfinden, was sich da wie ein Lauffeuer in der Schule verbreitet. "Ja, das habe ich auch gehört.", sagt ein anderer und plötzlich reden alle durcheinander. "Die ist doch so super reich. Bestimmt will die Knasti-Aushilfe nur an ihr Geld." - "Ja, ich kann mir das gar nicht vorstellen. Die ist doch voll hübsch und der Knacki mit den Tattoos und den kurzen Haaren." - "Ich hab gehört, dass das bei Lesben immer so ist. Eine hübsch und die andere wie ein Mann." - "Aber so richtig wie ein Mann ist die auch nicht. Eher badass." - "Ich finde sie passen nicht. Und vor allem ist doch mega komisch, wenn die jetzt Vertretung hat bei der oder?" 

Das Gerede geht mir schon nach kurzer Zeit so auf die Nerven, dass ich wütend zu den Kindern laufe und sie zur Rede stelle: "Sagt mal, was bildet ihr euch eigentlich ein? Ihr könnt nicht einfach so über Menschen urteilen! Ist doch scheiß egal mit wem ich zusammen bin oder halt auch nicht!" Niemand sagt mehr einen Ton. Alle sehen mich nur mit großen Augen an. "Von wem habt ihr das überhaupt?", frage ich immer noch wütend. Keiner sagt etwas. "Irgendwer muss es euch doch erzählt haben.", bohre ich weiter. Endlich sagt der Junge, der zuerst auf mich gezeigt hatte: "Emily hat das heute morgen auf Insta gepostet." Sprachlos schnappe ich nach Luft, als sich eine Hand auf meine Schulter legt. "Tess, wir müssen reden.", sagt Mark und zieht mich von den Kindern weg.  

Hold on to me (girlxgirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt