Kapitel 10

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Tess:

Ich bin sauer. Auf die Welt, auf die Menschen, auf Mark, auf Carlos' Club, auf Meike, aber besonders auf mich. Nachdem ich gestern mein Shooting verpasst habe, war es mit meiner Kontrolle dahin. Ohne Hemmungen trank ich die ganze Nacht mit wildfremden Menschen, rauchte eine ganze Schachtel Zigaretten und wachte am nächsten Morgen mit dröhnendem Kopf in meiner eigenen Kotze im Badezimmer von Mark wieder auf. Nach einer ausgiebigen Dusche, zwei Aspirin und einem Kaffee, bin ich abgehauen. Jetzt reagiere mich in meinem Auto ab, gebe Gas und drehe meine Rap Playlist auf Anschlag. Ziellos fahre ich über Landstraßen. Hasse mich dafür, dass ich nichts auf die Reihe bekomme. Erst Kay, die mich so aus der Bahn geworfen hat, dann Emily, die ich benutze und jetzt schaffe ich es nichtmal mehr pünktlich zu einem dämlichen Termin zu kommen wegen einem hübschen DJ. Warum versaue ich mir mein Leben immer wieder selbst? Ich gebe noch mehr Gas, fahre mit meinem Mini nun schon über 150km/h über die Straße. Die Kurven werden immer enger. Tränen vernebeln mir die Sicht. Für einen kurzen Moment verliere ich die Kontrolle über den Wagen, die Hinterräder rutschen weg und ich schlittere über die Fahrbahn. Panisch reiße ich das Lenkrad herum und trete so fest ich kann auf die Bremse, ich möchte nicht sterben. Mein Herz schlägt wie verrückt, als der Wagen kurz vor der Leitplanke ablenkt und schlingernd wieder auf die richtige Spur kommt. Mit zitternden Gliedern fahre ich vorsichtig bis zur nächsten Haltemöglichkeit und schalte den Motor aus. Ich atme tief durch und lege meinen Kopf auf das weiche Leder des Lenkrads. Kalter Schweiß steht mir auf der Stirn. "Ganz ruhig, Tess.", sage ich zu mir selbst. Langsamer fahre ich weiter, meine Hände zittern noch immer. Ich hatte gerade eben verdammt viel Glück. Nicht viel und ich wäre jetzt im Krankenhaus - oder noch schlimmer: tot. Und auf einmal wird mir klar, dass ich nicht sterben möchte. "Das Leben ist kein Wunschkonzert, doch jedes Leben ist ein Wunderwerk." singt Genetikk aus meiner Musikanlage. Wieso habe ich meines nur derart weggeworfen? Ich habe ein so wunderschönes Leben. Mir stehen alle Möglichkeiten offen. Dankbarkeit breitet sich in meiner Brust aus.

Als ich im Dunklen endlich nach Hause komme, umarme ich Louise fest und sage ihr, was ich schon immer mal loswerden wollte: "Danke, dass du da bist. Du bist wie eine Mutter für mich. Ich hab dich lieb." Gerührt erwidert die kleine Frau meine Umarmung und streicht mir über das Haar. "Ach Miss Tess, ich habe Sie auch ins Herz geschlossen. Ich bin so stolz auf das, was Sie alles schon erreicht haben. Sie sind ein so besonderer Mensch." Ich beginne zu weinen. Noch nie hat mir jemand gesagt, er wäre stolz auf mich. Mein Vater hat mir immer das Gefühl gegeben, nicht genug zu sein, nicht genug zu geben. In dieser mütterlichen Umarmung fühle ich mich so geborgen und geliebt. Ich möchte mich nicht von ihr lösen, möchte nicht, dass der Moment vergeht. Ich verziehe mein Gesicht, als es an der Tür klingelt und löse mich widerwillig von ihr.

"Na, wie geht's meiner kleinen Partymaus?", fragt Mark mit einem fetten Grinsen im Gesicht und einer Flasche Sekt in der Hand. Ich zucke mit den Schultern. Eigentlich habe ich wenig Lust auf Party heute Nacht. "Warum bist du heute Morgen einfach abgehauen?", fragt er weiter. Dieser Junge war manchmal so nervig. "Hatte was vor.", antworte ich knapp und will die Tür wieder zumachen, aber er stellt seinen Fuß dazwischen. "Hey, du wolltest doch heute mitkommen feiern!" - "Ich wollte heute eigentlich daheim bleiben.", sage ich bestimmt, aber er fuchtelt mit der Sektflasche vor meinem Gesicht herum. "Komm schon, Tess. Ich zähle auf dich! Es ist Wochenende!" Er reißt beide Arme hoch und tanzt albern auf der Stelle. "Hoch die Hände, Wochenende!", ruft er und sieht dabei so dämlich aus, dass ich anfange zu lachen. Mark dreht sich um, wackelt mit seinem Hintern und schlägt sich mit der freien Hand darauf. "Du bist so ein Spast, Mark.", sage ich lachend und laufe zu ihm heraus. "Du kommst mit?", fragt er freudig und umarmt mich überschwänglich. "Ja, aber nur weil ich dich nicht allein lassen kann. Du löst sonst noch ne Massenpanik aus." - "Gar nicht.", beschwert sich Mark lachend und öffnet die Sektflasche. "Die ist komplett für dich. Ich mach heute den Fahrer." Ich sehe ihn schockiert an. "Ich wollte heute eigentlich nicht so viel trinken, Mark." - "Ach quatsch, das sagst du immer. Du trinkst sowieso. Und außerdem hab ich die grad extra für dich gekauft.", schmollt er und schon hat er mich überredet. Ich liebe einfach das Gefühl, von Sekt besoffen zu werden, zu sehr. Schleichend breitet sich ein Schleier über deinen Sinnen aus und du fühlst dich angenehm benebelt.

Eine Autofahrt später bin ich im Refugium in der Innenstadt von Düsseldorf. Hier spielt sich gesamte Homoszene von Düsseldorf ab. Die Inhaberin, Sara, hat hier einen pulsierenden Treffpunkt geschaffen mit heißen Kellnerinnen, guter Musik und den besten Drinks der Stadt, die sogar Heterosexuelle hierher locken. Heute ist der Laden besonders voll. Es hat sich ziemlich schnell herumgesprochen, dass Sara eine neue - anscheinend extrem heiße - Bedienung eingestellt hat. Bisher habe ich sie noch nicht gesehen, dafür aber Emily, die in einer Ecke hockt und mir zuwinkt. Ich will erst so tun, als hätte ich sie nicht gesehen, aber sie macht Anstalten aufzustehen. Also laufe ich auf sie zu und setze mein nettestes Lächeln auf. "Hi Em.", begrüße ich sie knapp und lasse mich auf den Platz neben ihr fallen, die leere Sektflasche noch immer in der Hand. Auf einmal spüre ich ihren heißen Atem an meinem Ohr und ihre Hand an meinem Hals. "Hey Süße.", haucht sie und küsst mich auf den Hals. "schaut Leute, das ist meine Freundin.", sag sie dann etwas lauter zu den Leuten, die um uns herumstehen. Verständnislos schaue ich Emily an. Was ist nur in sie gefahren? Ich schubse sie von mir und springe auf. "Was soll die Scheiße? Ich bin nicht deine Freundin! Ich habe ein paarmal mit dir geschlafen, aber das wars auch schon.",ich werde immer lauter. "Verdammte Scheiße, was fällt dir eigentlich ein, du verdammte ..." Ich gestikuliere wild mit meinen Armen, als mich plötzlich eine Hand an der Schulter packt. Ich drehe mich wütend um. Wer wagt es, mich so anzupacken? Und meine Welt bleibt für einen kurzen Moment stehen, ehe sie vollkommen aus den Fugen gerät.

Hold on to me (girlxgirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt