22. Mai 1917

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Liebster Luis,
über drei Monate trennt dieser bestialische Krieg uns nun bereits.
Kannst Du Dir meine Sorgen um Dich vorstellen? Um Dich und um unseren Sohn?
Es sind zwölf Wochen vergangen, ich habe Dir Briefmarken zukommen lassen, und trotzdem bekam ich nicht das kleinste Lebenszeichen von Dir!
Wo bist Du nur?

Ich verzweifle langsam in dieser Situation. Wahrscheinlich schreibst Du fleißig Briefe an mich, an unsere Kinder, an Deine Freunde, aber hast einfach keine Möglichkeit sie uns zukommen zu lassen. Das ist es doch? Ist das der Grund?

Mein Liebster, ich habe traurige Neuigkeiten.

Ich wünschte, ich müsste es Dir nicht über einen so unpersönlichen Weg wie einen Brief schreiben, aber Dein Jugendfreund, Robert, wurde vor zwei Wochen in einer Schlacht irgendwo in Frankreich erschossen.

Die Nachricht erhielt seine Frau allerdings nicht über einen Brief. Versteh es nicht falsch, der Brief kam, aber er war voll mit Falschinformationen über Roberts Tod. Es hieß in diesem Brief, Robert wäre durch einen Schuss mitten ins Herz getroffen worden und sofort schmerzfrei gestorben.

Die Wahrheit; ein Schuss in die Wade, ein Zweiter in den Kopf. Aber er war wenigstens nach dem Zweiten sofort tot. Der Zweite war ein Gnadenschuss.

Ein Kamerad Roberts besuchte seine Witwe und erzählte von den grausamen Verhältnissen dort. Du kannst nicht glauben, wie sehr ich mich davor fürchte, dass einer von Euch beiden an diesen Ort muss. Du bist doch nicht in Frankreich?

Sind die Verhältnisse, da wo Du bist, menschlich?

Ich hörte von Roberts Kamerad, dass die Atellerie der größte Räuber des Soldatenschlafes sei. Und ohne den Schlaf, drehe man früher oder später durch. Du kanntest Robert Ewigkeiten. Kannst Du Dir vorstellen, dass so ein ruhiger wie er einfach durchdreht? Ich auch nicht. Sein Kamerad schilderte es aber so.

Sie nennen es Frontkoller. Habe noch nie davon gehört, Du? Von jetzt auf gleich sei er völlig ausgerastet, hätte einen Tobsuchtsanfall bekommen. An der Front. Im Schützengraben. Ich kann das alles nicht begreifen.

Er hätte damit seine Kameraden und sich in Gefahr gebracht. Der Mann sagte, während er in die Augen einer frisch verwitwerten Frau sah, dass sie keine andere Wahl gehabt hätten. Die eigenen Kameraden!

In was für einer Welt leben wir, wenn Kameraden ihre eigenen Verbündeten töten, um dem Feind die eigene Schwäche vorzuenthalten, um selbst zu überleben?

Unsere Soldaten sollen gegen unsere Feinde kämpfen. Stattdessen bekämpfen sie sich selbst. Töten sich selbst. Wozu brauchen wir dann noch Feinde? Ich bin erschüttert.

Meine Angst um Euch wächst. Mehr und mehr.

In Liebe,

Deine Charlotte

xxx

Ich gebe es zu, für einen Brief ist dieses Kapitel etwas lang......

Allerdings finde ich, dass das bei einem so ernsten Thema wie diesem durchaus akzeptabel ist.
Frontkoller war ein ernst zu nehmendes Problem. Und leider waren einige Soldaten tatsächlich gezwungen (als letzten Ausweg) ihre eigenen Kameraden zu erschiessen, um die anderen zu schützen.

Vielen Dank fürs Lesen ♡

Eure Fina♡

Briefe an die FrontWo Geschichten leben. Entdecke jetzt