25. Mai 1917

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Lieber Vater,

Nun erhälst Du auch endlich von einem Deiner Söhne einen Brief!

Anna hat mir gestern, als ich sie in diesem provisorischen Krankenhaus besucht habe, von ihrem Brief an Dich erzählt. Sie hätte Dir gerne noch viele mehr geschrieben, aber sie ist nicht in ihrer Bestform.

Um ehrlich zu sein, habe ich das Gefühl, dass sie immer kränker wird, dass sie seitdem sie dort ist, immer kränker wird. Zuhause ging es ihr besser. Zuhause fühlte sie sich sicher.

Hat Mutter Dir von den Soldaten dort erzählt? Ich mache mir wirklich Sorgen um sie. Aber Mutter will davon nichts hören, sie fürchtet sich einfach zu sehr davor, ihre Tochter zu verlieren.

Anna ist mittlerweile öfters nachts aufgeschreckt, weil sie schwarze Silhouetten im Türrahmen stehen sah. Zuerst dachte sie, es wäre ihr Arzt oder eine der Nachtschwestern gewesen, aber dann hat sie gehört wie diese Männer über sie geredet haben. Ich werde das hier nicht wiederholen, es würde Dich vor Wut schäumen lassen.

 Anna hat sich nicht getraut sich zu bewegen, sie wissen nicht, dass unser kluges Mädchen nicht geschlafen hat.

Bisher ist noch nichts weiter passiert, aber Vater, das kann so nicht weiter gehen! Anna hat unglaubliche Angst vor diesen Männern, Du solltest ihre Augenringe sehen. Sie schläft nicht mehr.

Und ihr ach so toller Arzt hört sich ihre Sorgen nicht einmal an! Mutter vertraut ihm. Sie verteidigt ihn immer mit seinem guten Ruf. Ich kann ihn nicht leiden. Er quetscht jeden Cent aus uns heraus, von Anfang an. Und trotzdem geht es Anna noch schlechter als zuvor!

Und Vater, es kommt noch schlimmer. Um die Arztrechnung zu bezahlen, hat Mutter den Mietvertrag in unserem Haus gekündigt. Wir leben wie Parasiten bei Roberts Witwe!

Ich fühle mich so schlecht. Nicht weil ich krank bin, sondern weil ich den ganzen Tag arbeite, trotzdem nicht genug verdiene und nicht einmal für meine kleine Schwester da sein kann. Was soll ich tun?

Bitte, Vater, melde Dich!

Gib mir einen Rat, wie früher. Vater, wir brauchen Dich, vielleicht mehr als je zuvor.

In Verzweiflung,

Dein Sohn,
Tom





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