2. Juni 1917

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Lieber Vater,

Ich habe Mutter schreiben sehen, kurz nachdem Anna von uns ging. Aus diesem Grund nehme ich an, dass Du weißt, was ihr zugestoßen ist.

Hast Du es bereits verarbeiten können? Ich nicht.
Mutter auch nicht, sie flutet sich mit Schuldgefühlen.
Ich kann ihr da nicht widersprechen. Ich weiß, dass sie nur eine Teilschuld trägt. Aber ich kann ihr nicht verzeihen. Es geht nicht. Ich weiß nicht, ob unsere Familie diesen Verlust überleben wird.

Das, was Du sagtest, bevor Du uns verlassen musstest, habe ich nicht vergessen. Du hattest Recht mit Deiner Annahme. Markus wurde so früh eingezogen, wie Du vorausgesagt hattest. Du hattest die Gesamtsituation besser überblickt, als wir alle. Besser als Mutter es jemals konnte. Sie hatte uns gesagt, sie hätte alles im Griff. Heute kann ich darüber nur bitter lachen.
Seit Du gegangen bist, hat sich so Vieles verändert. Ich erkenne mein eigenes Leben nicht wieder.

Ich habe mich um sie gesorgt, habe getan, was meine Pflicht war. Ich habe sie ernährt, wie ich es Dir versprochen hatte. Aber Vater, Du kennst mich, ich gebe erst in schwärzester Nacht auf. Bei Mutter habe ich aufgegeben.

In dem anderen Brief, den ich Dir geschrieben habe, habe ich Dich gebeten, zurückzukehren. Aber dieses Mal werde ich das nicht tun. Ich wünsche mir nach wie vor, dass Du wohlbehalten aus diesem unmenschlichen Gemetzel nach Hause kommst. Mein sehnlichster Wunsch ist es, Dich mit meinen eigenen Augen gesund und munter zu sehen.

Das Problem ist nur, dass dieses Zuhause nicht mehr existiert.
Erwarte nicht, dass Du einfach zu uns zurückkehrst.
Wohin denn überhaupt? Dieses 'uns' existiert nicht mehr. Das Leben, das Du gelebt hast, bevor Du eingezogen wurdest, existiert nicht mehr. Unsere Familie existiert nicht mehr. Dein ältester Sohn ist im Krieg verschollen, Deine jüngste Tochter ist tot und ich, ich, Dein mittleres Kind schaffe es mittlerweile nicht einmal mehr meiner eigenen Mutter in die Augen zu sehen. Das Haus, das du als Dein Zuhause angesehen hast, gehört nicht einmal mehr uns.

Ich bin ehrlich Vater. Wäre ich an Deiner Stelle, ich wüsste nicht, ob ich überhaupt noch zurückkehren würde.

Was ist von unserer Familie noch übrig geblieben?
Ich frage Dich Vater, weil Du derjenige warst und bist, der immer die richtigen Antworten wusste!

Dein Sohn,
Tom

Briefe an die FrontWo Geschichten leben. Entdecke jetzt