2. Kapitel - Nach der Schlittenfahrt

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Das Schlittenfahren war einfach fantastisch gewesen!
Noch nie zuvor hatte ich je auch nur auf einem Schlitten gesessen, aber jetzt wusste ich ziemlich sicher, was mein erster Wunsch zu meinem nahenden Geburtstag werden würde - abgesehen davon, ihn mit Luca zu verbringen.
Ich hatte absolut vergessen, wie viel Spaß es machte, mit jemandem gleichaltrigen zu spielen! Beziehungsweise ... wie nannte man das eigentlich bei uns? "Spielen" klang komisch ... vielleicht "abhängen"? Das war genau so seltsam ... Zeit zu verbringen. Mit jemandem gleichaltrigen Zeit zu verbringen.

Aber wie auch immer, jedenfalls hatte ich in Anbetracht der Umstände meine abweisende Fassade bald fallen lassen müssen, denn Luca war der absolut liebste und witzigste Mensch, den ich in den letzten vierzehn Jahren kennengelernt hatte und ich musste einfach nett zu ihm sein. Außerdem hatte Luca sich entgegen meiner Erwartungen nicht als Strandmensch, sondern als begeisterter Snowboarder, Eisläufer und Schlittenfahrer entpuppt!
Wäre der bloß schon vor sieben Jahren aufgetaucht... dann hättest du nicht die ganze Zeit um Natalie getrauert.
Habe ich doch gar nicht...
Hast du doch!

Oh nein, hatte ich da etwa plötzlich Tränen in den Augen? Verdammt, auf Trauer konnte ich nach diesem tollen Tag wirklich getrost verzichten! Danke auch, Natalie.
'Hey!', schalt ich mich. 'Du fängst jetzt auf keinen Fall damit an, Trübsal zu blasen, klar? Alles ist gut! Vergiss sie und konzentrier dich lieber auf deine bezaubernde neue Bekanntschaft!' Bezaubernd? Das war ja wohl ein bisschen übertrieben... Dennoch kehrte mein Lächeln sofort zurück. Luca.
Um kurz nach fünf hatte er gemeint, er müsse jetzt nach Hause, aber wir könnten uns ja am nächsten Tag wieder treffen. Schließlich hatten wir uns auf elf Uhr vormittags geeinigt.

Pfeifend und voller Vorfreude auf den nächsten Tag hüpfte ich den Weg entlang, der nach Hause führte. Es war schon erstaunlich, wie schnell man einen Freund bekommen konnte und wie gut die Laune dadurch wurde! Und Luca war doch jetzt mein Freund, oder?
Ja, war er. Ich mochte ihn jedenfalls und würde das nicht auf Gegenseitigkeit beruhen, hätte er mir das Treffen morgen nicht vorgeschlagen. Und vermutlich hätte er mich sowieso gleich im Schnee liegen gelassen...

Inzwischen war ich an unserem Haus angelangt und drückte die Klingel. "Ich komme gleich", tönte die Stimme meiner Mutter. Ein paar Sekunden später hörte ich sie den Flur entlanglaufen.
"Wo warst du denn so lange?", fragte sie, als sie mir die Tür öffnete.
"Im Park, wie immer?", antwortete ich misstrauisch, während ich eintrat.
"Und was hast du so gemacht?", fragte Mum und strich mir über den Kopf.
"Gar nichts?"
Mum lachte.
"Mein Schatz, jetzt guck nicht so. Ich frage doch bloß!"
"Ja ... naja, das Übliche halt. Ich bin rumgelaufen und habe ein paar Kinder beobachtet", sagte ich ausweichend, drückte ihr schnell einen Kuss auf die Stirn und lief hoch in mein Zimmer.

"Es gibt in zehn Minuten Essen!", rief meine Mutter mir nach. "Jaja!", erwiderte ich, machte meine Zimmertür auf und warf mich auf das Sofa, woraufhin ein hässliches Knacksen ertönte. Ich schloss kurz entnervt die Augen und stand dann wieder auf, um zu begutachten, was ich kaputt gemacht hatte.

Es war die Hülle meiner Lieblings-CD, auf der all meine Lieblingslieder und Lieblingskonzerte waren. Besorgt nahm ich diese heraus und überprüfte die Oberfläche.
Als ich erleichtert feststellte, dass sie heile war, legte ich sie in den CD-Player ein und sortierte meine Anziehsachen für den nächsten Tag, während der erste Satz eines Violinkonzerts von Mendelssohn begann. Dann setzte ich mich wieder auf das Sofa (diesmal vorsichtiger), lauschte mit geschlossenen Augen der geliebten Musik und ordnete meine Gedanken.
Ich hatte jetzt einen Freund. Zum ersten Mal wieder seit einer Ewigkeit!

Meine Freude darüber wurde plötzlich von Sorge überschattet. Ich hatte mich nicht einmal richtig dagegen gewehrt, obwohl es doch gegen all meine schützenden Grundsätze der letzte Jahre verstoß! Die ganze Zeit hatte ich mir eingeredet, wie wunderbar ich doch ohne Freunde zurechtkam, doch kaum sprach mich ein Junge in meinem Alter an, warf ich alle guten Vorsätze über Bord.
Wie sollte ich mich verhalten?
Dass es sich wunderbar anfühlte nicht allein zu sein, musste ich zugeben, obwohl ich mir dabei vorkam, als würde ich mich selbst verraten. Sollte ich die Freundschaft also zulassen? Oder brachte ich mich damit schon wieder in eine der Situationen, vor denen ich mich all die Jahre hatte schützen wollen?
Wer sich öffnet, ist verletzlich!

Andererseits ist auch verletzlich, wer sich dem Schicksal allein entgegenstellt. Die Begegnung mit Luca war doch ein Geschenk! Ich konnte nicht leugnen, dass ich mich sehr danach sehnte, mich auf die Freundschaft einzulassen und darauf zu vertrauen, dass Luca es besser zu schätzen wissen würde als eine gewisse andere Person es getan hatte.

Seufzend schob ich mir eine kitzelnde Strähne aus dem Gesicht. Vielleicht sollte ich das morgige Treffen einfach auf mich zukommen lassen und danach entscheiden, ob ich Luca vertrauen konnte. Ich öffnete ein Auge und betrachtete prüfend mein Outfit für den nächsten Tag. Vielleicht sollte ich doch lieber das rote Oberteil mit den Blütenblättern anziehen? Und war die Jeans nicht etwas altmodisch? Dann fiel mir ein, dass ich sowieso eine Jacke und Schneehosen tragen würde und schlug mir gegen die Stirn.
Kleines Dummerchen...
Es war also entschieden, ich würde zu dem Treffen erscheinen. Ich fragte mich, ob das tatsächlich je in Frage gestanden hatte. Vermutlich nicht wirklich.

Was wir wohl machen würden?
Vielleicht erneut etwas mit dem Schlitten unternehmen? Ach ja, der Schlitten...
Ich stand auf und schrieb auf ein Blatt Papier:

Wunschzettel
1. Ein Schlitten aus Holz

Wie der von Luca.

"Emily, Essen!", hörte ich meine Mutter rufen.
Emily. Mein richtiger Name ist nicht Emily, sondern Emma, aber diesen Namen konnte ich nicht leiden. Em-ma. Das klang nach einer alten Oma, die den ganzen Tag aus dem Fenster guckte und sich über die Jugend von heute beschwerte. Emily hingegen passte meiner Meinung nach total gut zu mir, darum hieß ich jetzt eben so. Mir fiel auf, dass ich mich Luca gar nicht vorgestellt hatte. Er hatte mich nicht nach meinem Namen gefragt.

Ob er seinen eigenen Namen wohl mochte? Ich fand ihn schön.
Lu-ca. Das klang wie -
"Emma! Hörst du mich überhaupt?"
"Ich komme ja schon, Mutter!", äffte ich Mums Ton nach, schaltete den CD-Player aus und rannte die Treppe zu ihr hinunter.
Ich würde mich Luca auf keinen Fall als Emma vorstellen, so viel stand fest!

Liebe im SchneeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt