E I N S

87 6 2
                                    

Jeder Mensch erreicht irgendwann im Leben mal einen Tiefpunkt. Ob mit dreizehn, neunundzwanzig oder fünfzig. Aber er verschwindet. Egal ob es Wochen oder Monate dauert, er verschwindet. Außer bei mir. Jede Sekunde meines Lebens ist er da, will mir klar machen, dass ich nichts anderes kenne, als immer nur herumgeschubst zu werden. Angefangen hat das alles, vor drei Jahren, seit dem Zeitpunkt, an dem mir alles genommen wurde. Mein Leben, meine Liebe, das einzige was mich hier gehalten hat. Aber jetzt ist es fort und was bleibt ist eine körperlose Präsenz, die ich einmal im Monat nutzen kann.

Seitdem meine Mom tot ist, lache ich nicht mehr oft, habe meine Gefühle hinter einem Käfig versteckt und um mich herum eine Mauer gesetzt, damit ich diesen Schmerz nicht noch einmal erleben muss. Damit mir niemand mehr mein Herz brechen kann. Die einzigste, die das noch tun könnte, ist meine beste Freundin Alice. Aber ich weiß, dass sie das nicht tun wird.

Alice und ich kennen uns schon von klein auf. Wir kennen uns in- und auswendig und haben uns noch nie im Stich gelassen. Sie ist mit mir durch dick und dünn gegangen und wir haben keine Geheimnisse voreinander. Sonst hätten wir nicht diese enge Bindung, die beste Freundinnen nun mal haben. Denn sie war es, die mich wieder aufgebaut hat, sie war es, die mich gelehrt hat, dass das Leben weiter geht. Ich danke ihr immer noch dafür und und schätze sie mehr, als ihr klar ist.

Dennoch, sie ist nicht alles in meinem Leben. Niemand ist das. Niemand, außer meiner Mom. Selbst jetzt nach ihren Tod vor drei Jahren, kann ich nicht aufhören, an sie zu denken.

So habe ich ihren Rat eingehalten, den sie mir damals gab, damit der Schmerz nicht so schlimm ist, wie vor drei Jahren, als mir bewusst wurde, dass sie nie wieder kommt.

Jeden Monat bei Vollmond lege ich mich auf die Lichtung hinter unserem Haus und spreche mit dem Mond. Das hört sich jetzt vielleicht verrückt an und das ist es vermutlich auch. Aber es hilft mir. So habe ich das Gefühl, nicht vollständig allein in dieser Welt zu sein.

Ich erzähle ihm all meine Sorgen, lasse meine Gefühlen und Gedanken freien Lauf und stelle mir vor, Mom hört zu. Ich stelle mir vor, wie sie neben dem Mond schwebt, eine körperlose Präsenz und mir zuhört. Manchmal denke ich auch, sie liegt einfach neben mir im Gras und wir genießen die Stille der Zweisamkeit.

Jeden Monat Vollmond kann ich in dieser einen Nacht so sein, wie ich bin. Ohne die Mauer um mich rum und ohne den Käfig um mein Herz.

So wie heute.

"Hallo Mom.", flüstere ich und stelle mir vor, wie sie zu mir herunterblickt und mir zuhört. "Da bin ich wieder, wie jeden Monat." Ich zögere. "Ich muss dir etwas sagen. Es ist eigentlich nichts schlimmes und ich weiß auch, was du dazu sagen wirst, aber für mich ist es einfach... schwieriger..." Ich stocke. Warum schiebe ich es eigentlich so vor mich her? Es ist doch sowieso schon beschlossene Sache. Und etwas dagegen tun, kann ich auch nicht mehr.

"Ich werde die nächsten zwei Monate bei Claire verbringen." Bumm. Jetzt ist es raus. Ich halte die Luft an. Da ist sie, die Nachricht, die ich gefürchtet habe. Die, die ich schon lange vor mich hergeschoben habe. Doch wem mache ich hier etwas vor? Nur mir selber... Ich will es mir nicht eingestehen, dass diese Familie mich noch aufnehmen will, nach allem was ich ihnen angetan habe. Ich will es mir nicht eingestehen, dass ich bei ihnen die Ferien verbringe, weil ich weiß, dass sie alles versuchen werden, um mich glücklich zu machen. Klar, als Moms beste Freundin ist es ihre Pflicht und ich weiß, dass ich sie dann wieder in mein Herz schließen werde. Und daran werde ich zerbrechen.

"Daniel ist auf Geschäftsreise und Oma und Opa machen Urlaub in Deutschland. Alice ist die ganzen Ferien in Italien. Ich habe also niemanden außer dir." Tränen steigen in meine Augen, doch ich schlucke sie runter. Ich habe mir geschworen, nie wieder zu weinen.

MondblumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt