Z W A N Z I G

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Ich komme erst spät abends zurück zum Hof. 

Ich sattle Midnight ab, stelle ihn in seiner Box und gehe langsam den Weg zurück zum Haus.

Mein Verhalten von heute morgen tut mir ein wenig Leid und mir wird bewusst, wie das auf die anderen gewirkt haben muss. Als wenn ich sie zurück gestoßen habe, und das habe ich ja irgendwo auch.

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Verdammt, warum muss alles was ich tue, den Bach runter gehen? Warum muss ich alles infrage stellen, über alles nachdenken, was sich mir in den Weg stellt?

Warum bin ich so, wie ich bin?

Ich strecke meinen Arm hervor, um das Küchenlicht anzumachen, doch es geht an, bevor ich den Schalter umdrehe. Was zum...

Ich drehe meinen Kopf und sehe Henry im Türrahmen stehen, die Arme vor der Brust verschränkt.

"Wo warst du?" Sein tiefer Ton lässt mir eine Gänsehaut über den Rücken fahren und instinktiv ziehe ich meine Schultern hoch. Ich zögere. "Ich war mit Midnight draußen."

Er zieht die Augenbrauen hoch. "Und warum?"

Ich antworte nicht, kann es nicht. Ich kann ihm nicht sagen, warum, denn das würde ihn verletzen und das kann ich nicht zulassen.

Er seufzt. "Du willst es mir nicht sagen?"

Ich schüttle nur den Kopf und betrachte ihn. Seine Wimpern werfen Schatten auf seinen Wangen und seine Augen strahlen direkt in mich hinein, als wollen sie mich studieren, verlieren ihren Glanz dabei nie.

Mit einem Mal wird mir klar, dass Henry wahrlich schön ist, von innen wie von außen. Damit spielt er in einer ganz anderen Liga als ich.

Er seufzt erneut. "Okay, aber nächstes Mal sag vorher bitte Bescheid, wenn du wieder so lange wegbleiben solltest."

Ich nicke, sage "Es tut mir Leid."

Er lächelt leicht, und winkt ab. "Ist schon gut. Ist wohl alles nicht so einfach gerade."

Bei seinen Worten steigt mir ein Kloß in die Kehle und in meinen Augen brennt es.

Wie Recht er doch mit seinen Worten hat. Es ist gar nichts einfach, war es schon lange nach Moms Tod nicht mehr. Alles stellt sich mir in den Weg und meine Kraft sinkt, gegen die Hindernisse anzukämpfen.

Ich versuche den Kloß runterzuschlucken, doch er klebt in meinem Hals fest. Zu sehr halten mich Henrys Worte fest.

"Ja.", sage ich mit brüchiger Stimme. "Es ist gar nicht so einfach." Ich versuche zu lachen, doch heraus kommt ein undefinierbarer Laut, den Henry wohl richtig gedeutet hat, denn seine Augen werden tiefer, sanfter und scheinen mir einen Teil meiner Last nehmen zu wollen. Es ist verrückt, doch ich merke, dass er es teilweise schafft, mein inneres Gemüt zu beruhigen und mir das bedrückende Gefühl auf meiner Lunge zu nehmen, sodass ich durchatmen kann.

Ein Schauer geht über mich, und ich sehe meine Mom plötzlich vor mir, wie sie mir zulächelt. Sie hat früher dasselbe gemacht. Wenn es mir schlecht geht, hat sie sich meine Sorgen angehört, sie in sich eingeschlossen und mir meine Last genommen, mich beruhigt.

Henry erinnert mich gerade so sehr an sie, dass mir ein kurzer Stich durch mein Herz fährt, doch ich verperre den Gedanken an sie, schaue nur Henry an, der einladend seine Arme austreckt, ohne etwas zu sagen. Manchmal denke ich, er kann Gedanken lesen, denn er versteht, was ich sagen will, ohne es auszusprechen.

Ohne zu zögern, gehe ich auf ihn zu und werfe mich in seine Arme, die mich willkommen heißen.

Er schlingt seine Arme um mich, legt seinen Kopf auf meinen und streicht mir beruhigend über meinen Rücken.

Und zum ersten Mal verspüre ich sowas wie Geborgenheit, Schutz und Wärme. Richtige wohltuende Wärme, die ein Puzzlestück meiner Seele zusammenfügt und so nur noch neunhundertneunundneunzig Stücke suchen und zusammen fügen muss.

Das ist ein Fortschritt, ein Schritt in die richtige Richtung, flüstert der kleine Engel in mir und ich schließe meine Augen, muss ihm im Stillen Recht geben.

Ich weiß nicht, wie lange wir so da stehen und ich die Umarmung genieße, bis ich mich beruhigt habe und meine Gefühle, Gedanken unter Kontrolle habe.

Langsam löse ich mich von ihm, schaue zu ihm hoch, und lächle ihn leicht an.

Er lächelt zurück und sagt leise "Wir sollten schlafen gehen."

Ich nicke nur und wir gehen zusammen die Treppen hoch, trennen uns an unseren Türen.

"Henry?", halte ich ihn auf und er dreht sich halb zu mir. "Ja?"

"Danke!"

Danke, dass du mir immer zuhörst.

Danke, dass du verstehst, wenn ich nicht reden möchte.

Danke, dass du für mich da bist, auch wenn ich es nicht will.

Danke, für alles, was du für mich tust.

Mir liegt so viel auf der Zunge, doch ich bekomme nur dieses eine Wort aus. Dieses eine Wort, dass zu oft und doch zu wenig benutzt wird. Dieses Wort, das zu wenig und zu viel ausdrückt. Dieses Wort, das ich endlich mal loswerden muss.

"Schon gut, Luna. Du gehörst zur Familie, schon vergessen?" Er lächelt , sodass mir mein Herz stehen bleibt und verschwindet dann in sein Zimmer.

Ein kleines Lächeln umspielt meine Lippen.

Ich drehe mich um, gehe in mein Zimmer, um mich umzuziehen und dann ins Bett zu fallen.

Du gehörst zu Familie, schon vergessen?, klingt es durch meinen Kopf. Er hat keine Ahung, dass er gerade zwei weitere Puzzlestücke zusammengefügt hat.

Mit dem Gedanken an alle, die mich ins Herz geschlossen haben, schließe ich meine Augen und sinke langsam ins Traumreich. Schöne, sanfte graue Augen sind das Letzte, an das ich denke, bevor mich das Traumreich verschluckt.


MondblumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt